Walter Benjamin
Adornos Rückschau auf das Leben und Werk Walter Benjamins[1]Theodor W. Adorno, „Charakteristik Walter Benjamins,“ Walter Benjamin. Sprache und Geschichte. Philosophische Essays (2017): 155-171. beginnt mit dessen Freitod am 27. September 1940. Benjamin war Teil einer Gruppe von Flüchtenden, die vom unbesetzten Teil Frankreichs aus versuchten, über die spanische Grenze zu gelangen und so schließlich Europa zu verlassen. Festgesetzt in der Grenzstation Port Bou und im Ungewissen über Erfolg oder Misserfolg der Flucht nahm sich Benjamin bereits auf spanischem Boden das Leben. Es gehört zur Tragik von Benjamins Geschichte, dass den verbliebenen Flüchtenden die Flucht schlussendlich gelang. Benjamin selbst wird bis kurz vor seinem Tod an einer theoretischen Fassung solcher Tragik arbeiten – den Thesen Über den Begriff der Geschichte. Es erscheint daher angemessen sie auch hier an den Anfang zu setzen.
Walter Benjamin gilt als ein Klassiker der sogenannten Moderne. Er wird am 15. Juli 1892 als Kind einer reichen, assimilierten jüdischen Bürgerfamilie geboren. Im Laufe seines Lebens eignete er sich einen vielschichtigen Blick auf dieses kulturelle Erbe an. Aufgewachsen im kaiserzeitlichen Berlin und sozialisiert in den Kreisen der reformpädagogischen Jugendbewegung trat Benjamin früh in einen durch zahlreiche intellektuelle Freundschaften befeuerten Austausch mit der jüdischen Tradition, den romantischen Idealen der Vorkriegszeit und dem Antimilitarismus während des ersten Weltkriegs. Dieser zwang ihn zur Flucht vor der Rekrutierung in die Schweiz, wo er in Bern sein Studium mit einer Doktorarbeit über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik abschloss. Dort lernte er 1915 Gershom Scholem kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft über mehre Staatengrenzen hinweg verbinden sollte. Der gemeinsame Briefwechsel nach Scholems Auswanderung nach Palästina 1923 dokumentiert die für Benjamins Schaffen zentralen Debatten und legt so Zeugnis ab von den Hintergründen seinem übersetzerischen, literarischen und philosophischen Schreiben. Im Vordergrund steht dabei die Auseinandersetzung um das richtige Verhältnis zum Judentum und die vor allem geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit der Literatur und dem Literatenleben in der bürgerlichen Gesellschaft.
In Benjamins Werk verbinden sich so gegenläufige Tendenzen. Er tritt ebenso als marxistischer Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft auf, wie als Interpret ihres Kanons – ihn scheinbar einseitig als modern zu bestimmen klingt daher verkürzend. Die Briefe an Scholem zeigen hier deutlich, dass Benjamins Ringen um den richtigen Ausdruck seiner Gedanken immer wieder auf die Begriffe der jüdische Tradition zurückkam. Zugleich zeigt sich diese Faszination nie isoliert von den zeitgenössischen Entwicklungen von Kultur und Politik; sie ist präsent in Benjamins Kafka-Deutungen und seinen sprachsoziologischen Studien. Seine eigene Tätigkeit als Übersetzer reflektierte er in der Vorstellung einer letztlich theologischen Ursprache, die er anhand der biblischen Sprachkonzeption beschreibt
Benjamin ist dabei kein mystischer Schwärmer; vorsichtig deutet er Konvergenzen zwischen traditioneller Theologie und zeitgenössischer Literatur, Gesellschaftstheorie oder Sprachwissenschaft an. Sein modus operandi ist die Zusammenstellung von scheinbar Disparatem, das erst im Wechsel der so zusammengeführten Gesichtspunkte sein volles Potential entfaltet. Die Lektüre Benjamins gleicht somit einer Übung im Aspektsehen. Benjamins literarisches Schaffen ist von kurzen, bilderartigen Sequenzen gekennzeichnet. Seine autobiographische Berliner Kindheit um 1900 arrangiert das Panorama der kaiserzeitlichen Gesellschaft und verbindet es mit den Fragmenten einer kindlichen Welt, der in mimetischer Annäherung ein Geheimnis abgerungen wird.
Das Geheimnisvolle und die technische Gestaltung des Lebens bilden für Benjamin so nicht nur zwei Pole seiner Aufmerksamkeit, sie charakterisieren auch seine Selbstverortung als Denker. Adorno unterscheidet in seiner Rückschau eine „esoterische“ frühe Phase und eine „materialistische“ späte Phase in Benjamins Schaffen.[2]Ebd., 155. Beide Zugänge zur Welt scheinen für Benjamin aber nicht getrennt thematisierbar zu sein; es ist gerade sein spätestes Dokument, die Thesen Über den Begriff der Geschichte, das die Vorstellung einer „messianischen Kraft“ des Erinnerns mit der historischen Aufgabe der Revolution verbindet. Wieso also mit Benjamins Tragik beginnen? Gemäß Benjamins Vorstellung von Geschichte, heißt Erinnern, sich in diejenigen Schicksale einzufühlen, die die Geschichtsschreibung unerklärt zurück lässt. Benjamins Tod gehörte für seine Freunde zu diesen unerklärlichen Ereignissen der Geschichte – nicht psychologisch oder materiell, sondern angesichts der greifbaren Rettung. Benjamin schreibt solchen unverständlichen Momenten des Leidens die Fähigkeit zu, künftige Generationen mit jener „messianischen Kraft“ auszustatten, das Leid im Erinnern doch noch zu versöhnen.
- #13 Index
- Marx und Moderne
- Landschaft konstruieren
- Otto Neurath
- Antisemitismus heute
- Auf der Suche nach einer säkularen Sprache
- "Man is a sum of his misfortunes": narrating tragedy
- Erfahrungen der Moderne in Motiven von Adornos Negativer Dialektik und der Ästhetischen Theorie
- Zum Bewusstsein der Moderne
- Walter Benjamin
- Emmy Noether
- Sigmund Freud
- Roland Barthes' Theorie der Fotografie als ein Stück persönlicher Erinnerung
- Mi querida Humanidad
- Stadt Tee Kuchen
- Diskussionsabend "List. Revolte. Subversion." – Ein Bericht
- Interview zum 97. Kunsthistorischen Studienkongress zu Berlin
- Stadtgeflüster
- Bibliographie