Sigmund Freud
Denken wir an Sigmund Freud, gelangen wir sehr schnell zur Therapieform der Psychoanalyse, denken an seine (Selbst-)Versuche mit Kokain oder an den inzwischen inflationär gebrauchten Begriff des Freudschen Versprechers. Doch Freud ist viel mehr! Nachfolgend sollen Schlaglichter auf einen der großen Denker des 20. Jahrhunderts geworfen werden, der in mehreren Disziplinen – insbesondere der Philosophie und der Literatur – nachhaltige Spuren hinterlassen hat.
1856 in Mähren geboren, nahm Freud 1873 das Studium der Medizin an der Universität Wien auf und begann 1882 eine klinische Tätigkeit im Bereich der Neurophysiologie. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich seine große Innovationskraft und sein interdisziplinäres Denken ab. Er gab sich nicht mit gängigen Konventionen zufrieden, sondern war Neuem gegenüber (manchmal allzu) sehr aufgeschlossen (etwa der Sprechtherapie als Vorläuferin der Psychoanalyse oder den genannten Studien mit Kokain) und dachte fächerübergreifend (darunter fallen seine ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Studien).
Eines war zu diesem Zeitpunkt aber sicherlich noch nicht absehbar: Dass Freud einmal für eine der drei großen Kränkungen der Menschheit verantwortlich sein sollte. Diesem Konzept liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch (respektive sein naiver Narzissmus) elementare Einschnitte in sein Weltbild erlebt hat, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt ausgelöst wurden: Nach den – von Freud identifizierten – kosmologischen (Kopernikus: Erde ist nicht Mittelpunkt des Weltalls) und biologischen Kränkungen (Darwin et. al.: Mensch hat tierische Ahnen und ist nicht Gottes Geschöpf) schreibt er sich die dritte Kränkung des Menschen größtenteils selbst zu.
Er spricht dem Menschen in diesem Kontext ab, der Herr im eigenen Haus zu sein. Mehr noch: Er attestiert ihm sogar mit Nietzsche bellende Hunde im Keller und schreibt ihm den Ödipuskomplex zu. Dem liegt die von Freud entwickelte Libidotheorie des Unbewussten zugrunde.
In diesem Zusammenhang wird klar, dass Freud – nicht nur in seiner ureigenen Disziplin, der Psychiatrie / Psychologie – ein Wissenschaftler war, der traditionelle Denkweisen kritisch hinterfragte. Damit trug er zu einem neuen Verständnis des Menschen beziehungsweise seiner Lebenswelt bei und ließ zu, dass neue Paradigmen entstehen konnten – Grundgedanken der Moderne, die ihn zu einem großen Denker und Wissenschaftler dieser Epoche machten.
Freud wählte dabei niemals den einfachsten Weg: Auf der einen Seite war er Schmeicheleien gegenüber sehr offen. Auf der anderen Seite ging er Konflikten im Kreise der Wissenschaft keinesfalls aus dem Weg. Als er sich gegen die lang einhellige Meinung stellte, dass Hysterie – da von der Gebärmutter ausgelöst – nur bei Frauen auftrete, stieß dies anfangs zwar auf vehemente Abwehr, konnte sich aber bald durchsetzen.
Ein weiterer Anhaltspunkt, warum Freud eine prägende Persönlichkeit – nicht nur – seiner Zeit war, zeichnet sich auch in seiner Rezeption ab. Ein Beispiel ist hier sicherlich die Frankfurter Schule. Neben den Lehren von Marx und Hegel wurde insbesondere die Psychoanalyse nach Freud als gedankliche Basis herangezogen.
Doch seine Thesen bleiben immer auch umstritten beziehungsweise entwickeln sich weiter: So präsentierten beispielsweise Deleuze und Guattari einen klaren Gegenentwurf zu Freuds klassischer Psychoanalyse. In ihrem Werk Anti-Ödipus stellten sie das Konzept der Schizoanalyse vor. Sie stellen sich gegen die Fokussierung auf die Sozialisation in der Familie: Bei ihnen ist das Unbewusste elternlos – es erzeugt sich selbst in der Einheit von Mensch und Natur.
Es zeigt sich: Freud, der 1939 im Exil in London verstarb, war einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Und er war bei weitem mehr als nur der Namensgeber des Freudschen Versprechers.
Interview mit Univ.-Prof. Helmwart Hierdeis
Freud war…
Sigmund Freud (1856 – 1938), der philosophisch, historisch, literarisch, kunstgeschichtlich und evolutionstheoretisch gebildete Wiener Nervenarzt, irritierte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Vertreter religiöser, idealistischer und mechanistischer Menschenbilder, die von der Lenkung des Menschen durch sein Bewusstsein ausgingen, in zumindest vierfacher Weise: durch eine Anthropologie, in der das Ich „nicht Herr im eigenen Haus“ ist, weil es von einem Unbewussten gesteuert wird, in dem die durch die Kultur unterdrückten sexuellen und aggressiven Triebe nach oben drängen; durch eine Kulturtheorie, die den ambivalenten, einerseits repressiven, Leid auslösenden, oft krank machenden und andererseits den Fortbestand der Kultur sichernden Charakter kultureller Normen beschreibt; durch eine Entwicklungstheorie, die auf unbewusste Konflikte im Kind aufmerksam macht, die später zu psychischen Krankheiten und Fehlentwicklungen führen können; durch eine Psychotherapie/Psychoanalyse, deren Wirkung auf der Bearbeitung der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient, auf dem Verstehen der Psychodynamik (wie sie sich z. B. in Träumen kundtut) und auf heilender Introspektion beruht.
Freud ist…
Die Nachwirkungen von Freuds Psychoanalyse sind auch im 21. Jahrhundert nicht zu übersehen: die weltweite Verbreitung der Therapie; eine unüberschaubare Literatur zu Person und Werk; Würdigungen Freuds als „Denker des 20. Jahrhunderts“ (Micha Brumlik) oder „Arzt der Moderne“ (Peter-André Alt); Einflüsse auf Belletristik, Kunst und Theater; ein lebhaftes gegenseitiges Interesse von Psychoanalyse und Humanwissenschaften wie Philosophie, Pädagogik, Theologie, Geschichte, Soziologie, Sprach- und Literaturwissenschaften; die Etablierung der Psychoanalyse und psychoanalytisch orientierter bzw. „psychodynamischer“ Schulen wie z. B. Individualpsychologie, Selbst-Psychologie, Ich-Psychologie und Objektbeziehungstheorie als gesetzlich anerkannte Psychotherapieformen im Gesundheitswesen, nicht zuletzt als „sprechende Medizin“ in Psychosomatik und Psychotherapie. Aber gerade die Medizin versucht, ihr naturwissenschaftliches Wissenschaftsverständnis als „Wissenschaft schlechthin“ durchzusetzen und, unterstützt von der gleichfalls naturwissenschaftlich ausgerichteten Verhaltenstherapie, die Psychoanalyse aus dem Gesundheitswesen zu verdrängen.
Freud wird sein…
Sofern Prognosen möglich sind: Freuds Theorie vom Unbewussten wird überleben, auch mit Hilfe der Neurowissenschaften. Sie bestätigen seine zentralen Annahmen über dessen Funktionen (z. B. bei der Entstehung von Träumen) oder lassen sie zumindest als Hypothesen gelten. Auch der Austausch zwischen Psychoanalyse und Humanwissenschaften und manche Kooperationen mit Medizin, Neurowissenschaften und Psychologie etwa bei der Erforschung von Depression, Traumata, Schmerz haben Zukunft. Die Psychoanalyse als Therapie wird weiter bestehen, aber möglicherweise nicht mehr im Rahmen der Klinik und damit auch nicht mehr als psychoanalytisch orientierte Psychosomatik und Psychiatrie. Das monopolistische Wissenschaftsverständnis der Medizin, ihre Definitionsmacht hinsichtlich Gesundheit und Krankheit und die dahinterstehende, auf unmittelbare Effektivität und Rentabilität bedachte Ökonomie bedrohen die bisher gesetzlich gesicherte Existenz der psychoanalytischen Therapie. Überleben wird der Schriftsteller Sigmund Freud. Seine „wie Novellen“ zu lesenden Krankengeschichten, seine Essays zu Religion, Kultur, Kunst und Literatur sind literarisch zeitlos. Nicht umsonst schlug ihn Romain Rolland, selbst Nobelpreisträger, 1936 für den Literaturnobelpreis vor.
Helmwart Hierdeis hat in Augsburg das Lehramtsstudium für Grund- und Hauptschulen absolviert und nach einigen Praxisjahren an der Universität München Pädagogik, Philosophie und Neuere Geschichte studiert. Nach seiner Assistentenzeit an der Pädagogischen Hochschule Bamberg war er Professor für Systematische und Historische Pädagogik an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Innsbruck. Dort erfolgte auch seine Ausbildung zum Psychoanalytiker. Von 1998 bis 2001 war er Gründungsdekan der Fakultät für Bildungswissenschaften Brixen der Freien Universität Bozen.
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- Auf der Suche nach einer säkularen Sprache
- "Man is a sum of his misfortunes": narrating tragedy
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- Zum Bewusstsein der Moderne
- Walter Benjamin
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- Sigmund Freud
- Roland Barthes' Theorie der Fotografie als ein Stück persönlicher Erinnerung
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- Diskussionsabend "List. Revolte. Subversion." – Ein Bericht
- Interview zum 97. Kunsthistorischen Studienkongress zu Berlin
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- Bibliographie