Marx und Moderne

Das Erste, was den meisten Menschen einfällt, wenn sie gefragt werden, was sie unter Moderne verstehen, ist neben dem Epochenbegriff häufig der Gedanke des Fortschritts. Sie assoziieren Moderne bzw. eine moderne Gesellschaft mit einer fortschrittlichen Gesellschaft. Bei genauerer Betrachtung dieses Fortschritts gelangt man zu den üblichen Verdächtigen: eine anonyme, urbane Stadt, die dynamisch ist und in ständiger Bewegung ständig neuen Fortschritt schafft. In Anbetracht der Urbanisierungsprozesse der frühen Moderne im Zuge der Industrialisierung um die Jahrhundertwende ist diese Assoziation nicht grundlegend zu verwerfen. Nun wundert dabei doch die positive Konnotation von Begriffen wie Dynamik, Fortschritt und Urbanität (in vielen Milieus wird auch die Anonymität hoch geschätzt); denn wenn man einen Blick auf die Hintergründe der Entstehung eines solchen urbanen Stadtlebens wirft, wird selbst der letzte Fortschrittsfetischist abgeschreckt. Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen: Fortschritt ist notwendig und verdient es fetischisiert zu werden. Niemand möchte ernsthaft in einer Zeit leben, in der Armut und Elend herrschen und der Mann als das Familienoberhaupt über die Arbeitskraft der Frau und Kinder verfügt, weil auf diese Weise eine Bauernfamilie ihren Lebensunterhalt bestreitet. Die modernen Auswüchse eines solchen Lebensmodells finden sich bei sogenannten Aussteigern wieder, die sich das „Aussteigen“ aus den bestehenden Verhältnissen leisten können müssen, was in sich schon paradox ist. Nun stellt sich bei allen Ausschweifungen trotzdem die Frage, wie eine solche moderne Konzeption von Stadt zu einem globalen Phänomen werden konnte und inwiefern die Anfänge dieser modernen Stadt alles andere waren als ein Traum für alle Individualisten, die sich vom Rest der Gesellschaft abgrenzen (müssen). Im Anschluss wird unser von der Lebensrealität der Menschen durch die damaligen Verhältnisse (und deren Auswirkungen bis heute) geprägtes Verständnis von Moderne und die damit verbundenen Begriffe Fortschritt und Dynamik in Frage gestellt.

Die Industrialisierung

Die Urbanisierung entstand in der Zeit der Industrialisierung, als Arbeiter in großen Massen vom Land in die Städte zogen, um in Fabriken Tätigkeiten auszuüben. Die Agrarwirtschaft wurde abgelöst von der industriellen Produktion. In dieser dominierenden Definition wird ausgeklammert, dass die Bauern durch die Feudalherrschaft ausgebeutet wurden und ihre Tätigkeit als Bauer aufgaben, um der Leibeigenschaft zu entkommen. Die in der Stadt vorgefundenen Produktionsverhältnisse waren nicht weniger hierarchisch, jedoch waren die Arbeiter frei in der Entscheidung, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und sich auf diese Weise in die Lohnarbeit zu begeben. Frei hier im konservativsten Sinne: Ihr Leben hing nicht mehr davon ab, die Ländereien zu bestellen, um die Abgaben an den Feudalherren zu leisten und sich selber versorgen zu können. Die urbane Gesellschaft ist und war eine arbeitsteilige Gesellschaft. Die Lohnhöhe wurde danach bemessen, wie viel die Arbeiter brauchten, um in einer solchen Gesellschaft sich selbst reproduzieren (Lebensmittelerwerb, Unterkunft usw.) zu können. Daraus resultierte, dass die Arbeiter in Unterkünften hausten, die sehr einfach waren und möglichst nah an dem Unternehmen lagen, für das sie arbeiteten. Die Filme von Charlie Chaplin, die diese Verhältnisse parodieren[1] Eine Szene habe ich dabei vor Augen: Charlie Chaplin arbeitet in einer Firma am Band, seine Aufgabe ist es, mit Hilfe von Schraubenschlüsseln die Schrauben und Muttern fest zu ziehen, nach mehreren Stunden, kann Charlie Chaplin (der Arbeiter) nicht mehr aufhören, die Schraub-Bewegung mit seinen Armen auszuführen, so kommt es nach Schichtende zu kuriosen Situationen, in denen er Personen statt Muttern „beschraubt“., zeigen recht eindrücklich die Eintönigkeit und Tristesse dieser Arbeitsverhältnisse, was nicht allein der Schwarz-Weiß-Aufnahme geschuldet ist. Diese Eintönigkeit des Arbeitsalltags ist dabei nicht das Einzige, was an den damaligen Verhältnissen auffällt. Vor allem fällt auf, dass die Abschaffung der Feudalherrschaft mit ihren Abhängigkeiten nicht zur gänzlichen Befreiung der Bauern führte, sondern eine neue Abhängigkeit durch die Produktionsverhältnisse in Form der Lohnarbeit nach sich zog. Die Anfänge der Moderne waren also fortschrittlich, immerhin wurde die Feudalherrschaft abgeschafft, jedoch herrschten daraufhin andere Ausbeutungsverhältnisse und zwei sich gegenüberstehende Klassen entstanden: die Bourgeoisie und das Proletariat. Neben den Arbeitern existierten nämlich Personen, die von dieser neuen Produktionsweise profitierten (Profit hier im eigentlichen Sinne). Die Arbeitsteilung ermöglichte Spezialisierung und damit verbunden die Monopolisierung von Unternehmen. Die Arbeitskraft schaffte Mehrwert, der von den Unternehmen in Form von Waren veräußert wurde; auf diese Weise konnte Kapital akkumuliert werden. Was bei diesem kurzen Umriss von den Beobachtungen Marx‘ noch nicht thematisiert wurde, ist die Entstehung der Bourgeoisie. Sie entsteht im Kampf um Besitz und Kontrolle der Produktionsmittel, der Instrumente, die zur Naturbearbeitung benötigt werden. Wer unter den geschätzten Lesern[2]In diesem Artikel wird nicht gegendert, weil die Sprache das Bewusstsein nicht auf die Weise verändert, wie es zur Befreiung der Frauen aus allen Formen der Knechtung notwendig wäre. Stattdessen werden Frauen in der Sprache auf der Ebene der symbolischen Ordnung formal gleichberechtigt, dieser Akt ist dadurch nur vermeintlich ein Akt, denn die tatsächlichen Verhältnisse bleiben durch ihn weiterhin unverändert. Ja, er verschleiert sogar die notwendige Radikalität, weil es jeden dazu ermächtigt, sich als Frauenbefreier stilisieren zu können, indem das Sternchen an die richtige Stelle gesetzt wird. Was aber zählt ist das Bewusstsein und nicht der symbolische „Akt“ des Sternchensetzers. Für mehr Radikalität im Feminismus! bis hierhin immer noch die Auffassung teilt, dass die Klassenverhältnisse eine Schicksalsbegebenheit wären, möge seinen Blick auf die unrechtmäßige Aneignung von Produktionsmitteln richten. Von der Klasse der Besitzenden unrechtmäßig angeeignet und veräußert werden auch die Waren, die die Arbeiter durch ihre Tätigkeit schaffen. Die Domestizierung der Natur, also das Arbeiten an und mit der Natur durch den Menschen, ist deswegen notwendigerweise zu erwähnen, wenn über die Produktionsverhältnisse gesprochen wird. Es verwundert, wie der momentan so im Trend liegende sogenannte Klima-Aktivismus diesen Zusammenhang von Natur und kapitalistischer Produktionsweise thematisiert. Es wird immer wieder davon gesprochen, dass die Wirtschaftsweise sich ändern muss, nachhaltiger werden muss beispielsweise, aber dass ein wesentlicher Teil der Produktionsverhältnisse auf der Arbeit an der Natur basiert, wird ausgeblendet. Tatsächlich sind die Menschen durch ihre Arbeit und die industrielle Produktionsweise von der Natur entfremdet. Diese Entfremdung kann aber nicht durch die Idealisierung von Natur, welche die Klimabewegung häufig vermittelt, aufgehoben werden. Jegliche Produktionsverhältnisse basieren auf der Domestizierung der Natur durch die Produktionsmittel. Im Kapitalismus allerdings werden diese von den Besitzenden zur Kapitalakkumulation eingesetzt und das Kapital wird eingesetzt, um mehr Kapital zu generieren. Aus diesem Grund sind nachhaltige innerhalb des kapitalistischen Systems liegende Veränderungen per definitionem ausgeschlossen.

Arbeitsteilung und Fortschritt

Der Fortschritt von Feudalherrschaft hin zur kapitalistischen Produktion ist nicht der alleinige Ursprung der positiven Konnotation von Fortschritt, die eingangs beschrieben wurde. Der Fortschritt, der in den spätindustriellen Gesellschaftsverhältnissen gefeiert wird, ist der Fortschritt, der sich mit dem Begriff der Innovation am besten fassen lässt. Neue Erfindungen führen zur Veränderung der Gesellschaft und die Dynamik einer modernen Gesellschaft entsteht durch die beständige Entwicklung von immer neuen Innovationen. Die Produktivkräfte, die Kenntnisse und Fähigkeiten der Naturbearbeitung, bestimmen die Organisationsform der Gesellschaft im Hinblick auf Produktion und soziale Ordnung. Wenn die Produktivkräfte über die Produktionsverhältnisse hinaus wachsen, verändert sich notwendigerweise die Gesellschaftsordnung und damit verbunden die Produktionsweise. Die Produktivkraft ist dabei nicht das handelnde Subjekt, vielmehr verändert sich die Gesellschaftsordnung durch den Kampf um Besitz und Kontrolle von Produktionsmitteln. Das treibende Element von Gesellschaft ist der Klassenkampf, also die Diskrepanz und der daraus resultierende Kampf zwischen den Besitzenden und Besitzlosen. Die Dynamik im Kapitalismus der modernen Gesellschaft entspringt dem Kapital, das zu seiner eigenen Vermehrung eingesetzt wird: Unternehmer kaufen Rohstoffe und Maschinen und beschäftigen Arbeiter. Auf diese Weise werden Produktivkräfte gebündelt und entwickelt, dies erfährt die übrige Gesellschaft als technologische Entwicklung und als Veränderung im Sinne des Fortschritts. Tatsächliche Veränderung der Verhältnisse kann allerdings erst durch den Klassenkampf entstehen, da die Produktivkraftentwicklung kapitalgebunden ist. Das, was also als Fortschritt und Modernität gefeiert wird, dient nicht dem dem Innovationsgedanken entspringenden ideellen Bild von einer fortschrittlichen Gesellschaft, sondern ist vielmehr ein Nebenprodukt der Kapitalakkumulation. Unternehmen bündeln Produktivkräfte, um mit der Konkurrenz mithalten zu können: Es werden Technologien entwickelt, die in derselben Zeit mehr Waren produzieren (durch Effizienzsteigerung Gewinnmaximierung). Die Technologisierung führt aber nicht zur Entlastung des Lohnarbeiters, seine Tätigkeit wird vielmehr einseitiger und die Situation aller Arbeiter insgesamt prekärer. Tatsächlicher Fortschritt entsteht durch die Kämpfe der Arbeiterbewegung, die beispielsweise durch ihren Kampf die Trennung zwischen Öffentlich (Produktion der Lebensmittel) und Privat (Familie und Heim) errungen hat. Der sogenannte Sozialstaat entstand folglich nicht einfach aus dem Zusammenspiel von Demokratie und Kapitalismus, sondern musste erkämpft werden.

Fazit

Nun wird nach diesem kurzen Einblick in die politisch-ökonomische Kritik von Marx transparent, dass die positive Konnotation von Moderne einem Fortschrittsbegriff entspringt, den es in Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse nochmal zu überdenken gilt. Zwar existiert Fortschritt allein durch die Entstehung einer modernen kapitalistischen Gesellschaft, weil dadurch scheinbar nicht nur diverse Multikulti-Oasen entstanden sind, sondern weil Leibeigenschaft, Hunger und Elend durch die modernen Produktionsverhältnisse, insbesondere durch die beschleunigte Produktivkraftentwicklung, abgeschafft wurden. Nichtsdestotrotz ist die Entwicklung hin zu unserer heutigen kapitalistischen Gesellschaftsordnung keine rein positive, wie der Begriff Moderne suggeriert. Die ideellen Assoziationen, die hervorgerufen werden, sobald es um Fortschritt und Veränderung der modernen Gesellschaft geht, entspringen einer Vorstellung, die der heutigen Gesellschaftsordnung fern sind. Diese ist geprägt von Antagonismen und dadurch notwendigerweise hierarchisch. Der „Fortschritt“ einer solchen Gesellschaft entsteht als Nebenprodukt der Kapitalakkumulation und findet deswegen eher willkürlich als sinnvoll statt, was sich an der stagnierenden ökologischen und technologischen Entwicklung bemerkbar macht. Beispielsweise wird bei der Problematisierung von Tierhaltung im Zusammenhang mit der effizienten Massentierhaltung nicht über die Ursachen einer solchen Fleischproduktion und deren Abschaffung durch einen notwendigen Systemwandel diskutiert, sondern Fleischersatz von denselben Unternehmen produziert, die mit Hilfe von Massentierhaltung Fleisch herstellen und durch den Fleischersatz nur eine weitere Produktionssparte erschließen. Diese Erschließung wird dem ethisch richtig handelnden Konsumenten als Fortschritt verkauft, dient dem Unternehmen aber zur weiteren Kapitalakkumulation. Wenn es um tatsächlichen Fortschritt geht, die Abschaffung von Ausbeutung und Knechtung, ändert die Produktivkraftentwicklung nicht zielführend etwas, da das Kapital nur in diejenigen Produktivkräfte investiert wird, die dem Unternehmen zur weiteren Kapitalakkumulation dienen. Die positive Konnotation von Moderne in Bezug auf den Fortschritt entspringt der propagierten, falschen Annahme, dass Unternehmen im Dienste der gesellschaftlichen Verhältnisse Innovationen durch Investition schaffen und fördern. Folglich gibt es Fortschritt im Kapitalismus, der in seinen Anfängen durch politische Kämpfe und staatliche Intervention zur Abschaffung elender Verhältnisse gesorgt hat. Die Krisen unserer Zeit, die Prekarisierung von Arbeit durch Technologisierung, die Klimakrise, sowie die Symptome dieser Krisen, Faschismus und Rassismus, werden nicht mit zufälligen Investitionen in systeminterne Innovationen zu bewältigen sein. Der politische Kampf ist das einzige Mittel, das zur Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse führen kann, was notwendig ist, im Angesicht der Krisen unserer Zeit. Der erste Schritt in diesem politischen Kampf könnte sein, den Begriff der Moderne und seine positive Konnotation als das zu erkennen, was sie sind: der ideologische Überbau der kapitalistischen Produktionsweise, der uns glauben lässt, es gäbe keine Alternative. Aber es gibt Alternativen, man muss sie bloß erkämpfen.

Referenzen

Referenzen
1 Eine Szene habe ich dabei vor Augen: Charlie Chaplin arbeitet in einer Firma am Band, seine Aufgabe ist es, mit Hilfe von Schraubenschlüsseln die Schrauben und Muttern fest zu ziehen, nach mehreren Stunden, kann Charlie Chaplin (der Arbeiter) nicht mehr aufhören, die Schraub-Bewegung mit seinen Armen auszuführen, so kommt es nach Schichtende zu kuriosen Situationen, in denen er Personen statt Muttern „beschraubt“.
2 In diesem Artikel wird nicht gegendert, weil die Sprache das Bewusstsein nicht auf die Weise verändert, wie es zur Befreiung der Frauen aus allen Formen der Knechtung notwendig wäre. Stattdessen werden Frauen in der Sprache auf der Ebene der symbolischen Ordnung formal gleichberechtigt, dieser Akt ist dadurch nur vermeintlich ein Akt, denn die tatsächlichen Verhältnisse bleiben durch ihn weiterhin unverändert. Ja, er verschleiert sogar die notwendige Radikalität, weil es jeden dazu ermächtigt, sich als Frauenbefreier stilisieren zu können, indem das Sternchen an die richtige Stelle gesetzt wird. Was aber zählt ist das Bewusstsein und nicht der symbolische „Akt“ des Sternchensetzers. Für mehr Radikalität im Feminismus!

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