Urteil und Kritik
Kritik ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite ist sie die Waffe des aufklärerischen Geis-tes. In diesem Sinne stellt sie die unverzichtbare Kompetenz dar, das eigene Leben nach wohlgeprüften, eigenverantwortlichen Maßstäben zu leben. Sie ist damit das eigene, das zugleich für alle anderen gilt, erhebt sie doch Anspruch auf einen öffentlichen Diskursraum, in dem demokratische Gesellschaften nicht nur das Leben eines jeden einzelnen, sondern eben dessen Kompatibilität mit demjenigen aller anderen aushandeln.[1]Vgl. etwa Kant, Band VI, 144. Kritik ist das Medium gewaltfreien Konflikts und Disputs, sie verkörpert wie kaum ein Zweites die Lebendigkeit demokratischen Streitens um die gemeinsamen Angelegenheiten, die res publica. Auf der anderen Seite ist Kritik aber auch immer die Waffe desjenigen, der sie nutzen kann. Wir haben Kritik als den legitimen Streit um die „gemeinsamen Angelegenheiten“ unter Rekurs auf die Aufklärung und den römisch-republikanischen Begriff vom Gemeinwesen eingeführt. Vor diesem Hintergrund umgibt sie ein glamouröses Scheinen. Empfänglich für diesen Schein ist aber in erster Linie, wer Latein gelernt und sich erfolgreich durch die Aufsätze (!) Kants geschlagen hat. Das heißt nicht, dass eine humanistische Bildung Voraussetzung für Kritikfähigkeit ist, aber es heißt, dass unser Kritikverständnis eine Geschichte hat. Kritik, mit anderen Worten, ist ein erlerntes Vermögen.
Als solches ist sie kein Produkt einer reinen, geschichtsfreien Vernunft, sondern wird unter konkreten historischen und sozialen Umständen eingeübt und hat auch nur unter ihrer Berücksichtigung Aussicht auf Erfolg. Dabei zeigt sich, dass Kritik und was als gute Kritik gelten kann, stark von der sozialen Position, dem Bildungsgrad und der kulturellen Prägung der Kritiker*innen abhängt. Um einem unkritischen Gebrauch von Kritik entgegenzuwirken, ist es notwendig, den Begriff der Kritik neu zu entwickeln und ihn als eine dialektische Auseinandersetzung mit seinem eigenen Ziel zu verstehen: Als eine Kritik, nämlich, die sich selbst, unsere Standards der kritischen Rationalität, kritisch bedenkt. Wir wollen in den folgenden Überlegungen einer Kritik der Kritik nachgehen: Dafür ist es notwendig, die systemische Stelle zu untersuchen, aus der heraus Kritik als Erbin der Aufklärung, als Inbegriff ratio-nalen Streitens sich selbst versteht. Als paradigmatische Funktion von Rationalität ist sie daran gebun-den, was es heißt ein rationales Subjekt zu sein. Vor diesem Hintergrund wollen wir fragen und schließlich affirmieren, ob es eine Kritik geben kann, die in diesem Sinne selbstbewusst ist. Doch beginnen wir ganz am Anfang. Kritik als subjektive, mithin wie eben skizziert problematische Praxis – was ist das überhaupt?
I Subjekt, Vermögen und Problem
Im normalen Sprechen begegnen uns Probleme als komplizierte Sachlagen in unserer Umwelt, auf die wir kraft unserer Fähigkeiten reagieren können. Ein Problem zu identifizieren heißt dann bereits, es als ein subjektives und mithin lösbares Problem vor sich zu haben. Was ist ein solches Problem? Dies ist die Frage nach seiner Ontologie. Die Alltagsontologie des Problematischen weißt ihm einen Kontext zu: das subjektive Vermögen. Probleme stellen sich nur Subjekten. Wenn der Horizont des alltäglichen Problems das Subjekt ist, dann muss eine intime Verbindung von Subjekt, Problem und Vermögen gedacht werden. Wir wollen uns diesem Problemkontext mit der Subjekt- und Vermögenstheorie von Christoph Menke nähern:
Vermögen zu haben heißt, ein Subjekt zu sein; ein Subjekt zu sein heißt, etwas zu können. Das Können des Subjekts besteht darin, etwas gelingen zu lassen, etwas auszuführen. Ver-mögen zu haben oder ein Subjekt zu sein bedeutet, durch Üben und Lernen imstande zu sein, eine Handlung gelingen lassen zu können. Eine Handlung gelingen lassen zu können wiederum heißt, in einer neuen, je besonderen Situation eine allgemein Form wiederholen zu können. Jedes Vermögen ist das Vermögen der Wiederholung eines Allgemeinen.[2]Menke, Die Kraft der Kunst, 13.
Menke weißt hier darauf hin, dass subjektive Vermögen auf Handlungen aus sind, die normativ strukturiert sind und in der Regel einen Zweck haben bzw. der Erbringung eines bestimmten Werks gelten. Handlungen sind damit Teil einer komplexen Wirklichkeit, die nicht einfach als natürlich gegebene erscheint, sondern bearbeitet werden kann. Ein Problem haben zu können ist damit die Gegenseite eines jeden Vermögens: Vermögen sind die Fähigkeiten, die es einem Subjekt erlauben, handelnd seine Umwelt zu formen. Dazu muss ein handelndes Subjekt seine Umwelt nach möglichen Werken gliedern können. Ein wesentlicher Teil seiner Vermögen besteht daher darin, sich in der Welt als einem Ort möglicher Werke zu orientieren. Weil diese Werke in der Welt nicht bereits vorliegen, erscheinen sie dem Subjekt als Probleme – als etwas, das noch nicht so ist, wie es gemäß einem bestimmten Bedürfnis sein sollte. Ein solches Sein-Sollen erscheint dem Subjekt allerdings nur aus der Perspektive eines bestimmten Vermögens, das ihm den Idealzustand einer Sache als Ziel einer praktischen Kompetenz zugänglich macht.
Die Tätigkeitsform des Subjekts setzt das Problematische voraus. Das heißt, das Problem wird durch dieselben Bedingungen konstituiert wie das Subjekt, das es zu lösen vermag. Probleme sind damit ebenso wie Subjekte produziert: Sie stellen deren Aufgabenbereich vor, ähnlich wie der Stoff eines Dramas den Aufgabenbereich einer Dramaturgin oder Filmemacherin vorstellt. Wie aber wird ein Stoff oder irgendein anderes Objekt als aufgegeben vorgestellt? Der Grund ist ein Gewahr-Sein der Welt als Aufgabe. Indem wir einen bestimmten Ausbildungsprozess durchlaufen, werden wir zu kompetenten Sehern unserer Umwelt; wir erkennen dieses und jenes als Zu-Formendes, so wie ein Kind bereits eine Buchstabenfolge nicht als Bild, sondern als Zu-Lesendes wahrnimmt. Wir haben Vermögen als soziale Praktiken kennen gelernt und werden daher die Werke, die sie teleologisch bedingen ebenfalls in diesem Kontext zu suchen haben. Die in einer Gesellschaft auftretenden Aufgaben und Vorgaben bilden damit den Werk-Stiftenden Horizont subjektiver Vermögen, sie sind der Hintergrund, vor dem eine Person ein bestimmtes Werk vollbringt. Soziales Vermögen und soziales Subjekt sind zwei Seiten einer Medaille: Wir werden zu Subjekten, weil wir Probleme lösen sollen und wir sind umgeben von Problemen, weil wir sie sehen können. Die Modalitäten sind hier aufschlussreich: Dem subjektiven Sollen entspricht ein objektives, weltbezogenes Können. Mit anderen Worten: Die Fähigkeiten des Subjekts unterliegen einem Kanon an Anforderungen.[3] Menke, Kritik der Rechte, 177ff. Sein spezifisches Können ist somit eine Seite aller subjektiven Vermögen, ihre selektive Perspektivierung des Blickes, der nach Problemen Ausschau hält. Dass sie diese sehen und lösen können entspringt daher einer normativen Konstitution der Subjekte: Sie sollen sie sehen können. Was ist also ein Problem? Es ist der Zustand der Welt aus der Perspektive des Subjekts.
Das Subjekt und seine Vermögen erschöpfen dabei allerdings nicht, was es heißt als Mensch tätig zu sein. Mit der Unterscheidung von Begeisterung und Vermögen verweist Menke weiterhin auf die Komplexität des modernen Subjektbegriffs:
[Poetik] erklärt die Kunst zu einer sozialen Praxis. Sie behauptet (…), es treffe nicht zu, daß in der Kunst eine Kraft wirke, die bis zur Bewußtlosigkeit begeistert. In der Kunst, als in ihrer Hervorbringung, Erfahrung und Beurteilung, verwirkliche sich vielmehr ein sozial erworbenes Vermögen (…).[4]Menke, Die Kraft der Kunst, 12.
Mit der Opposition von Begeisterung auf der einen und Vermögen auf der anderen Seite sehen wir hier zwei Arten vorgestellt, tätig zu sein. In Abgrenzung zur Begeisterung ist es insbesondere möglich die Verbindung von Problem, Materie und Vermögen zu durchschauen. Wenn die Materie eines Werkes – sagen wir der Stoff eines Dramas – die Ausführende begeistert, dann stellt sie sich nicht als Problem dar. Sie verlangt keine allgemeinen Regeln der Bewältigung, weil sie sich nicht zur Verarbei-tung durch einen kompetenten Geist aufgibt. Was wäre die der Begeisterung entsprechende Kompetenz? Menke weißt daraufhin, dass hier weniger von Kompetenzen, als von einem freien Spiel die Rede sein kann. Durch Begeisterung angesprochen, reagieren wir nicht technisch, sondern erlauben es uns, unsere Vermögen experimentell einzusetzen; wir wissen nicht, was wir eigentlich tun, folgen einem Gedanken, entwickeln neue Umgangsformen mit der Materie.[5]Menke, Kraft, 77. Dieses Spielen ist nicht im Sinne eines Subjektes produktiv, weil es nicht erlernt werden kann, ja weil ihm schlechthin keine Kompetenz entspricht. Nicht ohne Grund sprechen wir von begnadeten Künstler*innen. Aus diesem Grund korrespondiert dem Spiel kein Subjekt: Das Subjekt ist ein Modus der Bewältigung einer sich in Problemen artikulierenden Realität; die Begeisterung stellt hingegen eine ganz andere Art des Gewahr-Seins dieser Realität dar. Dabei ist wichtig, dass auch in der Begeisterung der Bezug zum Subjekt und seinen Vermögen nicht gänzlich abgeworfen wird; die Vermögen eines Subjekts erscheinen aber losgelöst von ihrem charakteristischen Blick auf die Welt. Menke spricht daher auch nicht von einer einfachen Dichotomie zwischen kompetentem Subjekt und spielendem Menschen, sondern von einem dialektischen Verhältnis beider Erscheinungsformen des modernen Menschen.[6]Menke, Kraft, 8ff. Wir können daher die verschiedenen Formen von Begeisterung und Be-rauschung auf deinen Seite und die Arten praktischer wie theoretischer Kompetenzen auf der anderen Seite als eng miteinander verwobene Bestandteile einer Anthropologie sehen. In ihrem Zentrum steht der Mensch als ein dynamisches Wesen, das Vermögen hat und spielt, das seine Vermögen spielend gewinnt und im Spiel Vermögen aktualisiert. Der Zusammenhang von Spiel und Vermögen ist Teil der Produktion des Subjekts. Es gewinnt in ihm seine Gestalt und entwickelt sich. Subjekte und ihre Probleme sind Teil dieser Produktion.
Wir sehen damit eine Möglichkeit, das Gemacht-Sein von Problemen, Subjekten und Vermögen in ein genetisches Verhältnis zu setzen. Sie sind Teil einer dynamischen Sichtweise des Menschen, in der sie aus konkreten sozialen Umständen hervorgehen und eine bestimmte anthropologische Funktion erfül-len: Sie konstituieren uns als Wesen, die eine Welt aus Werken, Zielen und freiem Spiel schaffen. Dass diese Welt sowohl geschaffen ist, als auch in einem dynamischen Verhältnis zu unseren eigenen Tätigkeiten steht, gerät aus der Perspektive der Alltagsontologie oft aus dem Blick – gerade weil sie sich nicht als eines ihrer Probleme stellt. Wollen wir aber verstehen, was es heißt ein Subjekt zu sein, insbesondere ein rationales oder kritisches Subjekt, müssen wir den Zusammenhang problematisieren, in dem Kritik ihre Gestalt als Vermögen gewinnt. Wir haben es hier folglich mit einem neuen Phänomen zu tun: Es ist der Zustand der Welt, der in der Alltagsontologie dem Subjekt begegnet, der eine andere Art von Problemen erzeugt. Wir wollen dabei von Formproblemen sprechen, denn sie betreffen die Art und Weise, auf sich Probleme Subjekten stellen.
II Die Dialektik des Urteilens
Wenn wir nach einem Alltagsproblem fragen, so wäre eine mögliche Antwort „Wie kann ich diesen Fluss überqueren?“ Das begabte Subjekt stellt sich dabei die richtigen Fragen und die richtigen Fragen sind diejenigen, die es auf Grund seiner Subjektwerdung sehen kann. Wenn wir hingegen nach einem Problem zweiter Ordnung fragen, so wäre eine legitime Antwort: „ich“. Damit stellen wir weder eine Frage noch eine Behauptung auf. Das „ich“ ist der Welt vorgelagert wie die Scheuklappen dem Blick eines Pferdes: Was „ich“ sagt, das hat bereits einen Blick auf die Welt. Das „ich“ zeigt an, dass unser Blick perspektiviert ist und seine Ontologie enthält die Form dieser Perspektivierung. Wenn das „ich“ problematisch ist, so heißt dies, dass das erzeugte Subjekt problematisch ist. Zu verstehen, inwiefern das Subjekt problematisch ist, heißt demnach seinem Werden nachzugehen. Dabei zeigt sich eine Möglichkeit der Kritik, mit der wir nicht nur Stellung zu einer gegeben Sache beziehen, sondern die gesellschaftlichen Mechanismen ihrer Erzeugung als Problem nachzeichnen. So wird ein Zustand denkbar, in dem Subjekt wie Objekt geöffnet erscheinen, vor ihrer Aktualisierung in der Subjektivie-rung. Die Möglichkeit eines solchen Zustandes eröffnet dementsprechend eine neue kritische Perspek-tive. Kritik öffnet sich für sich selbst.
Die Möglichkeit einer anderen Subjektivität ist zwar keine aktuale Option einer erneuten Subjektivie-rung, stellt aber einen Denkhorizont dar, der anzeigt, dass Rationalität nicht nur verschiedene Facetten hat, sondern als kritische selbst Teil ihres Skopus ist. Verstehen wir Kritik als das Projekt einer ratio-nalen Aufklärung eigener und fremder Meinungen, so rückt mit dieser Perspektivenverschiebung eine Erweiterung der kritischen Rationalität in unseren Blick. Um ihren Anspruch zu erfüllen, muss die rationale Kritik nicht nur Meinungen befragen, sondern auch darüber nachdenken, was es für eine Meinung bedeutet, gerechtfertigt zu sein. Die Rechtfertigung ist selbst Teil einer kritischen Auseinan-dersetzung. Indem rationale Kritik auf diesen Prozess reflektiert, ist sie gezwungen ihre eigene Recht-fertigung zu durchdenken. Sie ist nicht mehr nur mit den Problemen der Alltagsontologie befasst, sondern bezieht sich nun auf ein Problem zweiter Ordnung: dass die Perspektive des Subjekts selbst einer Kritik bedarf.
Wie lässt sich diese reflexive Perspektive begrifflich fassen? Die damit gestellte Frage ist die nach der Bestimmung der Kritik, wenn sie sich nicht in der Beurteilung subjektiver Problemlagen erschöpfen soll. Menke beschreibt dabei das ästhetische Urteil als Testfall für „die Möglichkeit, und die Notwendigkeit, des Urteilens überhaupt“.[7]Menke, Die Kraft der Kunst, 56. Indem wir Ereignisse oder Handlungen beur-teilen, verorten wir sie nicht nur entlang ihrer objektiven Eigenschaften und Wirkungen, sondern auch in Bezug zu einem Maßstab, der unser eigenes Verhalten bestimmt. Beurteilen wir etwa einen Arztbesuch in einer bestimmten Situation als geboten, bestimmen wir zu einem gewissen Grad dabei auch unser zukünftiges Verhalten – etwa im Falle einer schweren Verletzung tatsächlich auch eine Ärztin aufzusuchen. Dieses Urteil ist dabei kein partikulares, das in seiner Gültigkeit eingeschränkt bliebe; hat es sich einmal als angebracht erwiesen, würden wir es unseren Freund*innen raten und erwarten, dass auch Personen, die uns nicht nahestehen, zumindest vernünftigerweise auf eine ähnliche Art verfahren mögen. Ein Urteil drückt demnach auch normative Ansprüche aus.[8]Menke, Die Kraft der Kunst, 58. Damit ist das Urteilen in mehrerlei Hinsicht konstitutiv für Subjektivität. Gerade weil Subjekte durch ihre Vermögen zu praktischen Akteur*innen in einer Welt von Aufgaben und Problemen werden, müssen wir sie als urteilende Subjekte verstehen, das heißt als Wesen, die ihre Umwelt gemäß allge-meinen, handlungsbestimmenden Richtlinien einteilen. Denn was es heißt, in einem Vermögen aktiv zu werden, ist nicht zu trennen von den sozial geteilten Einstellungen, die wir zu unserer Umwelt einnehmen:
Das Zugleich in der Differenz von subjektiver Selbstregierung und sozialer Übereinstim-mung beschreibt die Dialektik des Urteils: das Zusammen- und Widerspiel zwischen seiner sozialen Geltung und seinem subjektiven Vollzug, in dem sich das Verhältnis von Gesell-schaft und Individuum entfaltet. Diese Dialektik definiert das Feld des Praktischen; prakti-sche Urteile sind ebenso sozial wie subjektiv, praktisches Urteilen ist ebenso das Medium der Sozialisierung (des Individuums) wie der Subjektivierung (der Gemeinschaft).[9]Menke, Die Kraft der Kunst, 59.
Ein Subjekt ist ein*e kompetente*r Akteur*in im sozialen Umgang mit der Welt. Sie ist dies als Teil einer Gemeinschaft. Im Urteilen ist sie dazu fähig, ihr praktisches Dasein in dieser Gesellschaft zusammen mit anderen zu artikulieren, das heißt, sich und ihre Nächsten wiederholt in den Problemlagen einer Gesellschaft zu situieren und zu bestimmen. Die darin ausgedrückte Dialektik zeigt sich für Menke in der Frage danach, wie die beiden Pole – Individuum und Gesellschaft – in ein- und demselben Akt der Selbst- wie Fremdbestimmung vermittelt werden können. Wie kann demnach das Urteil, in einer ernstzunehmenden Situation die Ärztin zu konsultieren, zugleich Ausdruck von vernünftiger Selbst- und erwartbarer Fremdbestimmung sein? Das heißt: Wie ist es möglich, dass sich eine Akteurin im Urteil selbst als diejenige bestimmt, die sie ist – und zugleich diese Bestimmung als eine normative bei jeder anderen Akteurin voraussetzen kann? Dieses Problem ist dem urteilenden Subjekt nicht extern. Wann immer ein Subjekt urteilt, seine in der Gesellschaft erworbenen Vermögen aktualisiert, sieht es sich damit konfrontiert, dieses Urteil sowohl sich selbst als auch seinen Mitmenschen zuzusprechen:
Das praktische Problem des Urteilens lautet: Wie kann ein Subjekt sich durch seine Urteile selbst regieren und darin als Individuum soziale Geltung gewinnen oder umgekehrt: Wie kann die urteilende Übereinstimmung einer sozialen Gemeinschaft individuelle Wirklich-keit in der Selbstführung der Subjekte erlangen?
Menke, Die Kraft der Kunst, 59f.
Wer hier urteilt wird unklar und das, obwohl das Urteil durch seine wertsetzende Funktion doch gerade die Selbstbestimmung des Einzelnen tragen sollte. Analoges können wir für den Begriff der Kritik sagen und so das zu Beginn ausgesprochene Unbehagen in Bezug auf ihre aufklärerische Funktion genauer bestimmen. Subjekte werden zu kompetenten Urteilenden und ipso facto zu kompetenten Kriti-ker*innen im Rahmen einer Dialektik, die es prinzipiell offen lässt, was es eigentlich das Subjekt dieser Kritik heißen soll, ein autonomes zu sein.
Menke weist außerdem daraufhin, dass diese Aufspaltung des Subjekts im Urteilsakt auch mit einer des Objekts einhergeht. Wenn sich ein Subjekt im Urteil als autonom bestimmt und zugleich eine allgemein gültige Norm zum Ausdruck bringt, dann trifft es nicht unmittelbar auf den beurteilten Gegen-stand. Menke spricht in Anlehnung an Hannah Arendt von einem Bruch mit der „direkten Affekti-on“[10]Menke, Die Kraft der Kunst, 60., die von einem Gegenstand ausgeht. Ein subjektives und doch allgemein gültiges Urteil kann nicht das gleichsam private Erscheinen einer Sache thematisieren, sondern bezieht sich stets auch auf etwas Allgemeines. Das Objekt wird im Urteil demnach nicht vom Subjekt als einzelnes repräsentiert, sondern in einer bestimmten Bedeutung. Auf diese Art müssen wir den Gegenstand eines Urteils neu begreifen; dem unmittelbaren und einseitigen Eindruck weicht eine begrifflich artikulierte Vorstellung von einer Sache, die den behandelten Gegenstand in einen verwandelt, der auf andere Gegenstände ausgreift, etwas für sie bedeutet. Ebenso wie die Probleme und Aufgaben unserer Umwelt erst durch die Subjektwerdung hervortreten können, sind die beurteilbaren Gegenstände nur durch ihre vermittelnde Reproduktion im Geist verfügbar. Aus dem einzelnen, singulären und ganz in sich abgeschlossenen Gegenstand wird so das in verschiedenen sozialen Kontexten bedeutungsvolle Objekt. Die Objektivität des beurteilten Gegenstandes ist somit sozial, weil sie Teil einer gesellschaftlichen Praxis, des Urteilens, ist und dieses Soziale ist objektiv, weil es den gemeinsamen Bezugspunkt unserer allgemein gültigen Urteile konstituiert. Dieses „Wegräumen des Gegenstandes“ (Arendt) ist Bedingung des Urteils, der Objektivität – und ihr großes Problem:
Die Bedingung des praktischen Urteils mit seiner Dialektik von Individuum und Gesell-schaft ist das Wegräumen des Gegenstandes, der Bruch der Affektion durch die Einbildungskraft des Subjekts: die Hervorbringung von Beurteilbarem. Weil es ohne Beurteilbares kein Urteil geben kann, muß das praktische Urteil (…) voraussetzen, daß diese ästhetische Konstitution in der Einbildungskraft abgeschlossen und gelungen ist. Das Problem des ästhetischen Urteils (…) besteht jedoch darin, daß diese Hervorbringung niemals abschließend gelingt. Das macht das Problem des ästhetischen Urteils zum Paradox: Es ist ein Urteil, das keinen Gegenstand hat – ein Urteil ohne Beurteilbares.[11]Menke, Die Kraft der Kunst, 61.
Menke nennt das Urteil hier ein ästhetisches, weil es eine Reflexion auf das Verhältnis von sinnlicher Unmittelbarkeit und sozialer Objektivität enthält. Zentral ist nun eine generelle Eigenschaft des Urteils: Als Urteilende nehmen wir den beurteilten Gegenstand als einen distanzierten auf; er geht nicht in einem privaten Eindruck auf, sondern wird legitimes Objekt eines allgemeinen Urteils und daher selbst ein allgemeines.
Vergleichen wir hier zwei Fälle. Wir sehen einen Nachrichtenbeitrag. Der Beitrag berichtet von einer beispiellosen Serie von Gewalttaten. Den Täter*innen werden abscheuliche Verbrechen vorgeworfen. Wir empfinden Ekel und Empörung. Bliebe es bei dieser ersten Reaktion, könnten wir kein allgemeines Urteil ausdrücken; Ekel und Empörung sind zwar weitgehend angeglichene Verhaltensweisen, bilden aber keinen Grund der allgemeinen Zustimmung. Empfinden wir nicht auch für Dinge Ekel und Empörung, die ganz verschiedene Werteigenschaften haben? Denken wir etwa an Ungeziefer (Ekel) oder an Fälle zynischen Verhaltens (Empörung). In diesen Fällen liegt zwar ein erster Eindruck von einem Gegenstand vor; er verliert sich jedoch gänzlich in den unmittelbaren Reaktionen der wahrneh-menden Person. Für eine solche Einstellung können wir mit Recht noch keine allgemeine Zustimmung verlangen. Erst durch den Bezug auf einen einheitlichen Gegenstand entsteht in unserer Einstellung ein Bezugspunkt, der auch für andere Geltung beanspruchen kann. In unserem Beispiel wäre das der Unterschied zwischen der Reaktion „Ich bin erschüttert!“ für den ersten, persönlichen Eindruck, und der Aussage „Das ist verabscheuungswürdig!“ für das zustimmungsfähige, allgemeine Urteil. Es handelt sich in beiden Fällen um denselben Gegenstand, doch einmal ist er gleichsam privat präsent und anderen verschlossen; das andere Mal ist er hingegen ins Allgemeine hinein geöffnet.
Es liegt nun nahe, den abgeschlossenen Gegenstand als geeignetes Objekt eines allgemeinen Urteils zu betrachten. Schließlich muss ich wissen, um was es sich handelt, wenn ich etwas beurteilen soll. Andererseits ist diese Präsenz des Gegenstandes nur um den Preis seiner Unmittelbarkeit verfügbar. Wenn wir eine Gewalttat innerlich erschütternd wahrnehmen, dann ist uns auf gewisse Weise ihr ganzes Ausmaß präsent. Der Gegenstand erscheint uns als eine unmittelbare Präsenz in unserem Geist und ist darin abgeschlossen. Er ist jedoch auch verschlossen. Denn als Element meiner direkten Bezugnahme ist er eben nur mein Gegenstand und gerade nicht Teil einer öffentlichen Welt, die auch anderen Personen zugänglich wäre. Der abgeschlossene Gegenstand ist also gerade nicht Objekt eines allgemeinen Urteils. Unser allgemeines Urteil „Das ist verabscheuungswürdig!“ reagiert daher auf eine Gewalttat als Objekt. Sie ist nun nicht mehr durch eine einzelne Art der Bezugnahme vollständig vorhanden, sondern bleibt zu einem bestimmten Grad unbestimmt, ist eben offen für verschiedene Einstellungen, die alle versuchen, das Objekt in den Blick zu bekommen. Indem ein Gegenstand zum Objekt der Kritik wird, wird er als etwas betrachtet, von dem ich Zustimmung nicht nur hinsichtlich seiner faktischen Charakterisierung, sondern auch hinsichtlich seiner Bewertung verlangen kann. Dieser ethische Aspekt des Urteils ist derjenige, der es zu einem Konstituenten für Subjekt und Objekt im hier relevanten Sinne macht. Im Urteilsakt bestimme ich ein Objekt als wertvoll oder wertlos – und zwar nicht für mich, sondern für potentiell alle anderen vernünftigen Wesen ebenfalls. Der Gegenstand ordnet sich so in eine geteilte Welt von Problemen und Aufgaben ein, er wird zu einem praktischen Objekt meiner und aller anderer wertender Bezugnahme. Das Urteilen eröffnet daher nicht die Möglichkeit, vollständig bestimmte Objekte in eben dieser Vollständigkeit aufzufassen, sondern viel-mehr einen Diskussionsraum, in dem um die richtige Einstellung zu einer evaluativ zunächst unbe-stimmten Sache gerungen wird. Unbestimmtheit und Objektivität einer Wertung bedingen sich hier wechselseitig: Meine ablehnende Einstellung zu dem berichteten Verbrechen ist genau insofern objek-tiv, als sie von verschiedenen Bezugnahmen validiert wird und sie ist insofern unbestimmt, als sie durch diese möglichen Bezugnahmen erst objektiv validierbar wird. Der Gegenstand meiner Wertung ist nicht länger in einem Bewusstsein abgeschlossen, sondern eben dasjenige, worauf sich mehrere Subjekte kraft ihrer Vermögen zu Urteilen beziehen können.
III Selbst-Bewusste Kritik
So wie das Subjekt seine autonome Selbstbestimmung durch seinen gesellschaftlichen Hintergrund stets als aufgeschoben erfährt, wird ihm auch sein Objekt, an dem es sich als kritisches Subjekt selbstbestimmend konstituiert, ins Ungefähre entzogen. Diese Reflexion auf den Akt des Urteilens führt uns zweierlei vor Augen. Zum einen wird hier die aufklärerische Subjektivität des Urteils so-wohl von ihrer subjektiven, als auch von ihrer objektiven Seite her als ein Aufschub der intendierten Selbstbestimmung kenntlich. Weder die objektiven noch die subjektiven Bedingungen einer solchen Konstitution sind im Urteilsakt erfüllt. Zum anderen ist das formale Nachzeichnen der Subjektwer-dung eine inhärente Kritik am urteilenden Subjekt. Diese Kritik weißt allerdings kein Problem für ein Subjekt aus, sondern macht deutlich, inwiefern der subjektive Umgang mit der Welt selbst keine unhintergehbare, letzte Natur ist. Die Dialektik des Subjekts macht deutlich, dass Subjektivität nicht alleine über die Festigung einer bestimmten Haltung oder Einstellung zu gewinnen ist; das Subjekt zeigte sich uns hingegen gerade durch seinen Aufschub als selbstbestimmt. Die Dialektik des Objekts hingegen zeigt, dass die Welt der Aufgaben und Probleme nicht abgeschlossen fixiert ist; sie ist als objektiv vielmehr eben dadurch konstituiert, dass sie offen für verschiedene Stellungnahmen ist.
Dialektik des Subjekts und Dialektik des Objekts sind zueinander komplementär, indem sie einen bestimmten Sinn von praktischen Möglichkeiten als unvollkommen ausweisen. Dieser Sinn ist der von praktischen Möglichkeiten als Handlungs- und Urteilsoptionen. Diese sind stets sowohl subjektiv, als auch objektiv aufgeschoben. Was bedeutet diese Unvollständigkeit nun für das Unternehmen rationaler Kritik? Wir dürfen hier nicht davon ausgehen, dass die Feststellung der Unvollständigkeit eine Kritik am Subjekt ist. Damit würden wir es selbst nämlich wiederum als ein Problem für Subjekte auf-fassen und nicht mehr als den konstitutiven Rahmen möglicher Probleme. Was uns diese Analyse zeigt, ist stattdessen die Art und Weise, wie Kritik sich selbst begleiten kann. Indem sie einzelne Urteile nämlich kritisch durch einen Blick auf ihre Unvollständigkeit ergänzt, werden diese sich selbst als vorläufige und aufgeschobene bewusst. In diesem Sinne ist eine Kritik in unserem Sinne auch zu-gleich ein Moment der Selbsterkenntnis des urteilenden Subjekts.
Wir können hier an den Satz des Sokrates denken, nur das geprüfte Leben sei lebenswert.[12]Platon, Apol. 38a5f. Damit geht entsprechend keine Kritik im landläufigen Sinne einher; Sokrates kritisiert nicht seine Zeitgenossen, indem er ihnen eine falsche Handhabe ebenso landläufiger Probleme vorwirft. Er skizziert stattdessen eine kritische Perspektive auf diejenigen Subjekte, die zur Kritik fähig sind. Er radikalisiert diese Fähigkeit, indem er sie auf ihre Wurzel bezieht. Die dadurch eröffnete Perspektive kritisiert nicht die Adäquatheit einzelner Vermögen, sondern rückt deren Vorläufigkeit in den Blick. Der Fehler, auf den Sokrates hinweist, ist der einer sich selbst als absolut nehmenden Subjektivität. Die von ihm angeführten Politiker, Redner und anderweitige Experten[13]Vgl. die Auflistung der von Sokrates Befragten in Apol. 21b1ff. leben nicht deshalb ein ungeprüftes Leben, weil sie in ihren Fachbereichen unachtsam oder inkompetent sind. Sie sehen vielmehr nicht, dass ihr Blick keinen Anspruch darauf erheben kann, ein allgemeiner zu sein. Was er vernachlässigt, ist die Unvoll-ständigkeit des Urteils. Eine Kritik, die wir entsprechend sokratisch oder aufgeklärt nennen können, ergänzt diese Unvollständigkeit – nicht zu ihrer Vervollständigung hin, sondern durch eine Reflexion auf eben diese Unvollständigkeit. Was sie erreicht, ist kein abgeschlossenes Subjekt oder Objekt, sondern ein selbstbewusstes. Ein kritisches.
Referenzen
↑1 | Vgl. etwa Kant, Band VI, 144. |
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↑2 | Menke, Die Kraft der Kunst, 13. |
↑3 | Menke, Kritik der Rechte, 177ff. |
↑4 | Menke, Die Kraft der Kunst, 12. |
↑5 | Menke, Kraft, 77. |
↑6 | Menke, Kraft, 8ff. |
↑7 | Menke, Die Kraft der Kunst, 56. |
↑8 | Menke, Die Kraft der Kunst, 58. |
↑9 | Menke, Die Kraft der Kunst, 59. |
↑10 | Menke, Die Kraft der Kunst, 60. |
↑11 | Menke, Die Kraft der Kunst, 61. |
↑12 | Platon, Apol. 38a5f. |
↑13 | Vgl. die Auflistung der von Sokrates Befragten in Apol. 21b1ff. |
- #12 Index
- Was ist Kritik?
- Heterotopien als Kritik?
- Stammtischgerede
- Begriff und Form politischer Lebensrealität
- Kritik im und am Theater
- Semantische Bestimmtheit, Regeln und Bedeutungsskeptizismus
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- Selbst und Kritik
- Der kleine Gott
- Urteil und Kritik
- das kunstkollektiv mo|men|tos
- Interview mit Christoph Menke
- „Das einzige Hindernis für den Fortschritt des Kapitalismus ist der Kapitalismus“
- Die Leichtigkeit schwerer Kritik
- „Determinismus ist Mist“ oder „Eine Geschichte der absoluten Freiheit“
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