Begriff und Form politischer Lebensrealität

„The most productive way of reading the ‚personal is political‘ is to interpret it as saying: the personal is impersonal.“[1]Fisher, Gespenster meines Lebens, 28.

„Es geht nicht um die Frage, weshalb wir so handeln sollten, wie wir urteilen. Sondern weshalb wir so urteilen und handeln sollten, wie wir als politische Teilnehmer urteilen und handeln; weshalb wir also überhaupt politische Teilnehmer sein oder werden sollten.“[2]Menke, „Am Tag der Krise“, 54.

„Das Persönliche ist politisch.“ lautet eine bekannte Formel, die – umgedeutet nach Mark Fisher – so viel besagt wie: das Persönliche ist unpersönlich. Das, was wir als unsere privaten Probleme, Schwierigkeiten erfahren, ist stets vermittelt mit gesellschaftlichen Umständen, die als solche in den Bereich politischer Fragestellungen und Handlungen fallen. Der persönliche Panzer, innerhalb dessen politische Unbequemlichkeiten scheinbar nicht eindringen können oder wenn, dann nur gewaltsam, ist selbst Gebilde eines politischen Prozesses. Wie man im Privaten miteinander umgeht, welche Ausdrücke man benutzt, was man für angebracht und unangebracht hält; all das kann nicht nur gemäß der eigenen Willkür bewertet werden, sondern auch aus der Sichtweise einer politischen Fragestellung. Diese Sichtweise einzunehmen erfordert allerdings Einübung und gelebte Praxis; sie kann selten unmittelbar erworben werden. – Wie soll man sich eine solche Sichtweise aber denken? Ist nicht jede Entscheidung bezüglich einer privaten Angelegenheit ultimativ auf die Willkür eines Individuums zurückzuführen? Ich versuche dementgegen eine begriffliche Markwährung daran, wie das Politische und das Private ineinandergreifen und dementsprechend der Formel „das Persönliche ist unpersönlich“ Sinn abzugewinnen.

Eine politische Frage ist bei erster Annäherung eine Frage danach, wie das Zusammenleben zu gestalten ist. Immer implizit mit enthalten ist dabei die scheinbar allgemeinere Frage, wer es ist, der hier zusammen lebt; es ist die Frage nach der Teilhabe an einer Gemeinschaft, die ihr Zusammenleben bestimmen will. Das Verhältnis dieser beiden Fragen ist problematisch: die zweite ist notwendige Voraussetzung für die erste, während die erste schon in der zweiten aufzufinden ist; nämlich wenn schon die Entscheidung, wer dazu gehört und wer nicht, bestimmt, wie man dann auf Basis dieses Aus- oder Einschlusses zusammen lebt – nämlich mit oder ohne jenen.
Wir fragen also zuerst, wer überhaupt Teil einer Gesellschaft sein soll – und wir fragen es so, als ob es unsere Gesellschaft wäre. Diese Festsetzung ist aber schon eine Mitbestimmung der Frage danach, wie wir als diese unsere Gesellschaft zusammenleben wollen.

In jeder politischen Frage und jeder Haltung, die man zu einer solchen Frage einnehmen kann, ist also ein impliziter oder expliziter Verweis auf eine Gemeinschaft enthalten. Die Situation, in der eine politische Frage aber gestellt wird, ist zunächst immer nur die des Individuums, das sich auf der einen Seite schon in einer politischen Gegebenheit (also einem konkret ausgestaltetem Zusammenleben mit einer Bestimmung derjenigen, die dazu und die nicht dazu gehören) befindet und auf der anderen Seite sich durch den Akt der Frage in eine mögliche Distanz zu dieser setzen kann. Erst in dieser Distanzierung kann es sich als Individuum erfahren und auch als politischer Akteur, der es vermag, die politische Frage auch zu beantworten und umzusetzen. Als ein solches Individuum ist man urteilend und handelnd. So bestimmt steht es aber vor der Möglichkeit, so oder so zu handeln, d.h. einerseits den Inhalt seiner Handlungen und seiner Urteile zu bestimmen und andererseits auch die Art und Weise des Beurteilens und Behandelns einer Sache. Die erste Frage betrifft den Gehalt einer Sache, der andere die Form, in der man mit einem solchen Gehalt umgeht. Diese Form kann sich aus der gegebenen Situation heraus einmal als individualistisch oder eben politisch äußern. Handele und urteile ich individualistisch oder politisch? Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick künstlich erscheinen: kann man nicht auf individualistische Weise politisch handeln? So eine Konzeption findet sich etwa bei aggregativen Modellen politischer Willensbildung: Politik setzt nur die Vermittlung verschiedener Einzelinteressen durch, die aber keine Dimension eines Gemeinwohls oder ähnliches aufweist. In dieser Konzeption gibt es allerdings nur eine Form von Urteil und Handlung: die der Individuen. Politisches ist dabei immer reduzierbar auf private Einzelinteressen der als vorgängig angenommen Individuen.[3]Das große Gegenmodell zum aggregativen ist das deliberative Modell: es nimmt die Dimension des Moralischen in den Blick. Trotz allem belässt es aber die Unterscheidung zwischen dem bloß privaten und dem öffentlichen Modus des Lebens in einer Gesellschaft, welche zwar nicht reduziert, aber zu einem anderen Problem führt: dasjenige der Nicht-Vermittelbarkeit. – Das Problem einer solchen Auffassung darzustellen und die Möglichkeit einer genuin politischen Form des Urteilens und Handelns in dem so verstandenen Sinne auszuweisen, muss im Ausgang der vorherigen Bestimmung einer politischen Frage geleistet werden. Denn wie die beiden ineinander verschränkten Fragen zeigen, kann es sich bei der individualistischen Form nur um eine (zwar notwendige, aber) nachrangige gegenüber der politischen handeln. Es geht also nicht darum, seine Individualität völlig aufzugeben und in irgendeiner Gemeinschaft völlig aufzugehen. Die undifferenzierte Masse als Ziel und Ergebnis des politischen Prozesses ist abzulehnen. Wie lässt sich also die Differenz Individuum-Gesellschaft aus Sicht des Subjekts in seinem Anspruch nach fassen?

Die Ausgangsfrage ist also, warum man als Individuum überhaupt politisch ist – oder: sein sollte.
Was sind die jeweiligen Motivationen, die dahinter stehen? Eine genuin politische Haltung wäre damit ein längerfristiger Überzeugungszustand, der nicht durch private Interessen oder Zustände konstitutiv (oder auch: wesentlich) bestimmt ist, sondern sich hauptsächlich durch das Auffassen und Bestimmen gesellschaftlicher Probleme ergibt und dabei mit Bezug auf diese eine zusammenhängende Weltanschauung entwickelt. Die Weltanschauung wirkt dabei auf das Bestimmen dessen, was ein gesellschaftliches Problem ist und welchen Stellenwert es hat, zurück und modifiziert so den Überzeugungszustand.

Man könnte hier schon die Frage zurückweisen und sagen: Dass und auf welche Weise man politisch ist, hat seine Ursache nicht in den Motivationen des Einzelnen, sondern allein in der historischen und sozialen Situation, in der sich der Einzelne befindet; dementsprechend ist die Frage nicht sinnvoll.

Aber auch das wäre zu einseitig. Zusammengenommen ergeben die Erklärung durch die Situation und durch die Motivation Sinn: Man findet sich in einer politischen Situation und erfährt dadurch die Möglichkeit, in diesen Verhältnissen die eigene Motivation herauszuarbeiten, die dadurch niemals unabhängig von jenen sein kann. Man muss annehmen, dass die Situation eine andere werden kann und die Motivation sich darauf richtet, diese Möglichkeit einer Veränderung zu verwirklichen. Das setzt aber voraus, dass man seinen eigenen Ort im gesellschaftlichen Raum, seine eigene Rolle und Funktion innerhalb der politischen Situation als eine (vorerst) bloß gegebene, also nicht selbst gewählte, korrekt begreift. Daher können die Handlungen, die ohne ein solches Bewusstsein getätigt werden, nicht auf die tatsächliche politische Situation einwirken. Wenn aber die Definition des Politischen eben jene Möglichkeit der Veränderung ist, kann man davon sprechen, dass sich diese Handlungen selbst zwar als politisch gebend, aber tatsächlich nicht politisch seiend, als schein-politisch erweisen. Die Möglichkeiten der Situation sind bestimmt als die tatsächlichen Handlungsräume, in der eine Einzelne einen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen kann. Eine Haltung, Handlung, Aussage, die nicht genuin politisch ist, kann trotz allem politische Konsequenzen haben. Mein privates Interesse ist per se kein politisches, aber es lässt mich handeln im Sinne eines bestimmten politischen Programms.

Damit ist also auf die Eingangsfrage zu antworten: Die Motivationen, die sich auf das Politische richten, sind nur dann wirklich politische Gründe, wenn sie aus der korrekten Auffassung der jeweiligen politischen Situation hervorgehen und auf diese gerichtet sind. Nur in dieser Form kann das, was als Politisches erscheint, tatsächlich genuin Politisches sein. Damit kann das, was sich politisch gibt, anhand seines eigenen Standards gemessen werden und dies rechtfertigt wiederum die Bewertung des eingangs angesprochenen Engagements.

Wir können uns aber nun neben dieser formalen Bestimmung der politischen Motivation fragen, was für einen Inhalt sie in sich so fasst. Es geht darum, was motiviert: eine bloße Meinung, eine Emotion, ein Fakt? Zu unterscheiden ist zwischen dem Inhalt der politischen Motivation und dem Inhalt des Politischen, was prinzipiell viel mehr sein kann: Ein Bauvorhaben kann politisch werden, aber mein privates Interesse, dass dieses Bauvorhaben umgesetzt werde, kann nicht Inhalt meiner politischen Motivation sein (wenn ich eine solche in Bezug auf dieses Problem überhaupt habe).
Dieser Inhalt muss aufgrund der beschriebenen Form ein überindividuelles Moment aufweisen. Es ist eben kein privates Interesse, kein individualistischer Ausdruck des eigenen Lebensgefühls, aber auch (vorerst) nicht das, was man unvermittelt für richtig hält, was den genuinen, d. h. eigentlich politischen, motivationalen Inhalt hier ausmachen kann.

Aber die Motivation ist als solche gebunden an ein Individuum: Wie kann also hier überhaupt ein überindividuelles Moment greifen? Das läuft auf die Frage hinaus: Wie kann ein Einzelner von etwas motiviert sein, das ihn nicht betrifft? Eine erste Antwort wäre hier, dass wir als soziale Wesen (was hier zunächst ganz deskriptiv zu verstehen ist) motiviert werden durch unser soziales Umfeld. Doch diese Antwort lässt sich immer noch rein durch individualistischen motivationalen Inhalt erklären. Uns ist das soziale Gefühl angenehm, so wie uns ein warmes Getränk angenehm ist und deshalb streben wir danach, es zu erhalten. Die Frage ist also vielmehr:

Wie kann zu dieser Abstraktion einer Ansammlung von Individuen, die wir Gesellschaft nennen, ein motivationales Verhältnis bestehen, welches wir nur zwischen diesen Individuen vorfinden können?
Oder anders formuliert: Wie kann man Gesellschaft von diesem theoretischen Ausgangspunkt so beschreiben, dass man sich auf diese auf eine Weise beziehen kann, dass so etwas wie eine politische Motivation in dem oben bestimmten Sinne möglich ist? – Die Antwort liegt in der Zurückweisung dieser Fragestellung. Wir beginnen ein Bild zu zeichnen, das, einmal an den Anfang gestellt, verhindert, aus dieser Stellung der Gedanken auszubrechen: Das Bild der vereinzelten Individuen. Es ist Ausdruck der Haltung, das Politische zurückzuführen auf etwas außer-politisches: die individuellen Neigungen, die dem Fachbereich der Psychologie oder auch der deskriptiven Soziologie zugeordnet sind. In diesen Ausführungen verlieren wir entweder das genuin Politische, so dass wir allein auf Sachfragen zurückgeworfen werden, die unbedingt notwendig zu beantworten sind, aber nicht hinreichend für die Bildung des politischen Subjekts sein können. Oder (und das ist öfter der Fall) wir erhalten eine Weltanschauung, die sich als unpolitisch und objektiv-rational begreift und implizit schon innerhalb politischer Kategorien arbeitet. Im ersten Fall verlieren wir prinzipiell den Bezug zur politischen Situation und ihrem Potential; lassen den Zustand also so wie er ist und sind Spielball der eigentlichen politischen Akteure. Im zweiten Fall sind wir die Akteure und wissen nichts davon. Also auch unabhängig von einer politischen Motivation, die sich ohne Wissen des Einzelnen niederschlägt. Im zweiten Fall kann man in einem nicht-abwertenden Sinne von Ideologie sprechen.

Wir müssen zunächst den Inhalt der politischen Motivation als möglich betrachten und das heißt: nicht Abweichen von der Sache selbst, die wir verlieren in den Reduktionsansätzen. Diese Sache ist durch die begriffliche Bestimmung schon formal angegeben und hat eine gelebte Realität; ist also in einem anschaulichen Sinne nachvollziehbar. Damit meine ich, dass wir Beispiele aus unserer eigenen Erfahrung geben können, anhand derer wir diesen Inhalt mit unserem Begriff (der formalen Bestimmung) zusammenführen können. Das können Gespräche sein, Gedankengänge, konkrete Situationen mit anderen Menschen, Demonstrationen, aber auch Lebenssituationen beruflicher Art, die Ausprägung der eigenen zwischenmenschlichen Beziehungen, die Wohnsituation, familiäre Verhältnisse, Konfrontationen mit offiziellen Organen, usw.
Bei all diesen Beispielen gilt es nun, immer das genuin Politische herauszuarbeiten, immer im Bewusstsein der Möglichkeit, dass es sich genauso um bloß individuelle Befindlichkeiten gehandelt haben könnte, aber gleichzeitig auch nicht zu vorschnell alles als bloß private Probleme abzuwerten. Vielleicht gelingt so eine Annäherung an das Politische.

Referenzen

Referenzen
1 Fisher, Gespenster meines Lebens, 28.
2 Menke, „Am Tag der Krise“, 54.
3 Das große Gegenmodell zum aggregativen ist das deliberative Modell: es nimmt die Dimension des Moralischen in den Blick. Trotz allem belässt es aber die Unterscheidung zwischen dem bloß privaten und dem öffentlichen Modus des Lebens in einer Gesellschaft, welche zwar nicht reduziert, aber zu einem anderen Problem führt: dasjenige der Nicht-Vermittelbarkeit.

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