Was ist Kritik?

Leitartikel der Chefredaktion

Teil I

Kritik sieht sich häufig einigen Vorwürfen ausgesetzt, die sowohl die Art des Kritisierens als auch den Gegenstand der Kritik betreffen. Ein Beispiel hierfür ist sicherlich, dass Kritik lediglich zur Profilierung des Kritisierenden ausgeübt wird, sollte sie doch mehr dahingehend ausgelegt sein, konstruktiv und bestenfalls unterstützend zu sein. Weiterhin kann Kritik dabei nicht als ‘richtig’ oder ‘falsch’ deklariert werden, da der logische Wahrheitsgehalt nicht ihr Gegenstand sein sollte. Dennoch scheint Wahrheit ein wichtiger Faktor für das Gelingen von Kritik zu sein, wenn es hierbei auch nicht um logische Wahrheiten geht. Vielmehr scheint Kritik eine gewisse Ähnlichkeit zu einem ästhetischen Urteil zu haben, beispielsweise kann der Satz „Du singst sehr gut!” als Kritik verstanden werden. Anstelle von Wahrheit kann man bei guter Kritik zumindest von Wahrhaftigkeit sprechen und damit die Verlässlichkeit des Kritisierenden meinen.
Diese Charakteristika betreffen allesamt subjektive Facetten der Kritik. Doch erschöpft dies die Bedeutung von Kritik hinreichend? Betrachten wir hierzu unser Beispiel des ästhetischen Urteils aus einer anderen Perspektive. Es macht nämlich einen erheblichen Unterschied, ob das Lob für meine Gesangskünste von einem ausgebildeten Musiker oder von einem netten Passanten auf der Straße geäußert wird. Intuitiv würden wir nur im ersten Fall von einer ernstgemeinten Kritik sprechen, im zweiten möglicherweise nur von einer gut gemeinten Freundlichkeit. Dies liegt darin begründet, dass wir bestimmten Personen aufgrund ihres Wissens und sozialen Status Autorität zuschreiben. Übertragen auf Kritik heißt das, dass wir es nicht mit einem rein subjektiven Phänomen zu tun haben können. Gerade weil für das Funktionieren von Kritik in bestimmten Fällen ein Expertenstatus notwendig ist, hat Kritik stets auch eine allgemeine oder verbindliche Seite, anders als es zunächst beim ästhetischen Urteil zu sein scheint.
Ähnlich verhält es sich im Fall der ironischen Kritik. Hier finden wir allerdings kein normiertes Verhalten vor, wie im Fall des Experten. Durch Ironie begründe ich keine Expertenposition, noch schreibe ich mich in einen Kontext ein, in dem mir in meiner kritischen Äußerung eine Autorität zugeschrieben werden könnte. Stattdessen manipuliere ich absichtlich die herrschenden Konventionen, um etwas äußern zu können, ohne dabei die kritisierten Konventionen aktiv zu brechen. Diese Form der indirekten Kritik hat dabei ein direktes objektives Ziel: Indem ich oberflächlich eine bestimmte Konvention fortschreibe, entkerne ich sie untergründig und mache sie zum Vehikel der ihr entgegengesetzten Inhalte.
Was ist Kritik denn nun? Wir konnten anhand einiger Fälle von Kritik sehen, dass sich Kritisierende in ein Spannungsfeld von Subjektivität und Objektivität begeben, das nur schwer vermitteln scheint. Kritik zeigt sich uns weder als schlichtweg ‚wahr‘ oder ‚falsch‘, noch kann sie als bloß subjektiv abgetan werden. Wir wollen daher einen alternativen Weg einschlagen, der sich von der traditionellen Festlegung sprachlicher Ausdrücke auf Wahrheit oder Falschheit unterscheidet und stattdessen von Sprache als Handlung ausgeht. Grundlegend hierfür ist die Sprechakttheorie nach John L. Austin, die in seinem Werk How to Do Things with Words begründet wurde.

Wir wollen Kritik als Sprechakt auffassen. Wer auch immer kritisch auftritt, zeigt nicht nur eine Haltung, sondern tut auch etwas: Eine Person, die Kritik übt, äußert sich, um damit etwas zu bewirken. Die ‚um … zu‘-Formulierung macht deutlich, dass unter dem Titel Kritik als Sprechakt nicht nur eine semantische Analyse geleistet werden muss, sondern auch eine ethische. Sobald wir eine sprachliche Äußerung nicht nur als Informationsgehalt verstehen, sondern ihrem Sinn auch eine praktische Dimension zuweisen, stellt sich die Frage nach ihrem ethischen Charakter. Dabei ist von vorne herein allerdings nicht klar, inwiefern eine Äußerung etwas tut. Können wir nicht im Anschluss an jeden Satz, den wir aussprechen, den Zusatz „das habe ich nicht so gemeint“ anhängen? Sind es denn letztlich eben keine Taten, sondern nur Worte, die wir in die Welt entlassen, wenn wir uns äußern? Und gilt dies nicht in besonderem Maße für Kritik? Ist Kritik denn nicht gerade das Reflexionsmedium möglicher Handlungen, aber keinesfalls selbst schon eine?
In diesen vier Fragen ist eine fundamentale Kritik nicht nur an der Sprechakttheorie skizziert, sondern auch an der hier vorgeschlagenen Konzeption von Kritik in ihrem Sinne. Wir können ihnen daher nicht nur die weitere These entnehmen, dass mit Sprechakten etwas grundsätzlich schief sei, sondern auch die deutlich schwächere und daher plausible These, dass doch zumindest Kritik keine Handlung im vollen Sinne sei. Unsere fiktiven Opponenten scheinen daher die folgenden Thesen zu vertreten:

1. Der Gehalt einer Äußerung kann jederzeit relativiert oder gar aufgehoben werden. Das alleine zeigt, dass Äußerungen nicht mit starken ethischen Auflagen belegt sind.
2. Äußerungen sind außerdem keine Handlungen. Sie beziehen sich vielmehr auf Handlungen und können diese zur Diskussion stellen. Überhaupt: Wenn eine Person jedesmal täte, was sie sagte, wäre es ja unmöglich, überhaupt eine Handlung zu diskutieren.
3. Selbst wenn bestimmte Äußerungen auch Handlungen sind, so gilt das sicher nicht für Kritik. Kritik ist gerade das Reflexionsmedium für unsere Taten – sie kann daher ihrem Wesen nach gar nichts tun, sondern immer nur auf der Metaebene hypothetisch vorgehen.

Hier ist nun ein Blick auf die Sprechakttheorie hilfreich. Sie unterscheidet im Sinne einer praktischen Dimension des Sprechens zwischen Lokution, Perlokution und Illokution. Um den ethischen Aspekt von Kritik, ihre Grenzen und Möglichkeiten auszuloten, wird es wichtig sein, das Verhältnis zwischen dem ersten Aspekt eines Sprechaktes, der Lokution, und den jeweils anderen beiden Aspekten näher zu beleuchten. Generell sei noch einmal daran erinnert, dass Sprechakte dabei als Einheiten auftreten, die mit diesen drei Aspekten entsprechenden Eigenschaften versehen sind. Gemeinsam ist jedem Sprechakt dabei zunächst sein lokutionärer Aspekt, das heißt die Tatsache, dass es sich um eine sinnvolle Äußerung in einer bestimmten Sprache handelt. Verstehen wir sprachliche Äußerungen nur als Lokutionen, haben sie keine ethischen Qualitäten. Unseren Opponenten, könnte man meinen, ist in dieser Hinsicht völlig zuzustimmen. Sie können dabei etwa auf logische Analysen von Aussagen verweisen, die an keiner Stelle mögliche praktische Effekte ausweisen würden. So deute etwa nichts an dem (offensichtlich falschen) Satz „Frauen sind natürlicher Weise eher Mütter als Managerinnen“ darauf hin, dass hier auch eine Handlung vorliege. Sein Gehalt ließe sich, so die Argumentation, vollständig über seinen Informationsgehalt ausdrücken. Wer ihn äußere, sage zwar etwas falsches, aber mehr passiere dabei eben auch nicht.
Wichtig ist hier, dass Sprechen eben nicht darin besteht, Lokutionen zu äußern. Sprechakte sind stets auch Lokutionen, aber nicht nur solche. Aber wie, so unsere Opponenten, kommen denn die unverfänglichen, reinen Lokutionen zu ihren ethischen Qualitäten? Was macht sie auf einmal zu Handlungen? Die logische Analyse zeige ja, dass eine Aussage an sich eben wahr oder falsch ist, das aber eben keine praktischen oder ethischen Kategorien seien. Um diesem Einwand zu begegnen, ist es sinnvoll, das Verhältnis zwischen Lokution auf der einen und Perlokution bzw. Illokution auf der anderen Seite genauer in den Blick zu nehmen. Austin verweist dabei auf ein analytisches Defizit, das er seinen Mitphilosophen und Philosophinnen unterstellt: Sie würden zwar die Bedeutung von Aussagen und auch die Effekte, die diese auf ihre Hörerinnen und Hörer haben, beachten, dabei aber außer Acht lassen, dass jene Äußerungen selbst Handlungen konstituieren. Was heißt es aber, eine Handlung zu konstituieren?
Betrachten wir hierzu an einem Beispiel zunächst die Perlokution genauer, um anschließend den illokutionären Aspekt von Kritik in den Blick zu bekommen: Wir befinden uns auf einer philosophischen Konferenz und zwei Philosophinnen führen eine hitziger Debatte. Eine der Diskutantinnen wirft ihrer Gesprächspartnerin nicht nur die Missachtung fundamentaler logischer Regeln vor, sondern auch die mutwillige Inkaufnahme von falschen Behauptungen. Ihre Kollegin reagiert entrüstet. Was ist hier geschehen? Nehmen wir an, unsere erstgenannte Philosophin hätte etwas gesagt: „Sie missachten den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch!“ Diese Aussage erscheint als sachliche Kritik an einer bestimmten Position, die in ihrer Validität zwar geprüft werden muss, aber zunächst keine Entrüstung veranlassen würde. Gehen wir weiterhin davon aus, unsere Philosophin würde nachlegen: „Schlimmer noch! Sie sind sich dessen sogar bewusst und tun es dennoch – offensichtlich, um auf Kosten der Wahrheit Eindruck zu machen!“ Auf diese Aussage mit Entrüstung zu reagieren erscheint eher verständlich. Dennoch, so scheint es, ließe sie sich ebenso wie die erste Aussage verstehen: als Kritik an einer bestimmten Position, ungeachtet der Reaktionen, die sie auslöst. Doch betrachten wir näher, was wir eben festgestellt haben! Wir konnten sehen, wie eine Aussage a) einen sachlichen Gehalt hat, der hinsichtlich seiner Wahr- oder Falschheit zu beurteilen ist. Damit können wir den lokutionären Aspekt der Aussage umschreiben. Jede der beiden Aussagen hatte zudem b) bestimmte Effekte bei ihrer Hörerin. Die erste Aussage wird sie vielleicht mit einem sachlichen Problem konfrontiert haben, woraufhin sie sich veranlasst gesehen haben mag, ihre Position neu zu formulieren; die zweite Aussage hingegen wirkte stark – und verständlicher Weise – emotional. Unsere Diskutantin wird sie zumindest zum Teil als Unterstellung, Vorurteil oder Beleidigung aufgefasst haben. Mit diesen Reaktionen ist der perlokutionäre Aspekt der jeweiligen Aussage erfasst. Wir könnten nun meinen, dass wir damit eine vollständige Analyse vorliegen haben. Ist es denn nicht hinreichend, die Effekte einer Handlung zu kennen, um sie zum einen als Handlung ausweisen zu können und zum anderen ihr eine ethische Qualität zuschreiben zu können?
Unsere Opponenten sind hier jedoch gerüstet: Haben wir denn selbst nicht eingestanden, dass Aussagen als Perlokutionen zwar Effekte haben, aber diese eben äußerlich zu ihrem Sinn hinzutreten? Ist es denn noch jedesmal möglich, auf die Befindlichkeiten der jeweiligen Hörer oder Hörerinnen zu verweisen, um den perlokutionären Aspekt einer Aussage zu verstehen? Was dann noch zur Analyse der Aussage selbst verbliebe, wäre eben ihr rein logisch zu erfassender Sinn – dem aber selbst eben keine ethischen Eigenschaften zukämen. Zumindest ließe sich so argumentieren, dass Aussagen selbst in erster Linie logische Entitäten seien, deren angenommene ethische Seiten eher in die Urteilskraft der Sprecher und Sprecherinnen fällt. Diese müssten die Situationen, in denen sie sich äußern, einschätzen können und im Zweifel abwägen, welche Wirkungen sie erzielen könnten. Abermals wird auf diesem Wege die Frage nach einer Ethik des Aussagens zu einer empirischen Angelegenheit. Wir handeln demnach nicht, indem wir sprechen. Stattdessen äußern wir praktisch inerte Gehalte, die erst auf Grund empirischer Umstände und transformiert durch unsere Zuhörerinnen und Zuhörer praktisch relevant werden. Was hier eigentlich zählt, ist die psychische Verfassung unseres Publikums – die aber sicherlich nicht in unserer Verantwortung liegt.
Wenn wir uns also für die These der ethischen Verantwortlichkeit von Äußerungen qua Äußerungen auf ihre perlokutionären Eigenschaften stützen, geben wir unseren Opponenten genug Material zu ihrer Verteidigung an die Hand, als wir uns wünschen sollten. Es stellt sich allerdings zugleich die Frage, ob die Analyse unseres Beispiels mit (a) und (b) tatsächlich abgeschlossen ist. Variieren wir hierfür etwas die Situation. Stellen wir uns vor, die betreffende Diskussion fände nicht unter den gewohnten Bedingungen wissenschaftlichen Streitens statt, sondern als ein argumentativer Ringkampf, in dem es ganz normal ist, die Gegnerin mit völlig überzogenen Vorwürfen zu konfrontieren, um so das Publikum rhetorisch zu beeindrucken. Mit Hilfe eines darauf aufbauenden Punktesystems wird am Ende des Austausches eine Siegerin festgestellt und mit einem großzügigen Geldpreis sowie Ruhm und gesellschaftlicher Anerkennung bedacht. Die Gültigkeit der dabei ausgetauschten Argumente spielt nur eine untergeordnete Rolle. Gehen wir außerdem davon aus, dass sich die Diskussion, wie wir sie zuvor beschrieben haben, schlagartig und von unserer ersten, Kritik übenden Philosophin unbemerkt, in diese neuartige Situation verwandelt. Unter den geänderten Bedingungen würde sich an dem lokutionären Charakter ihrer Äußerungen nichts ändern. Sie würde nach wie vor die Missachtung fundamentaler logischer Regeln ankreiden und eine gewisse Unterstellung hinsichtlich der Absicht dieser angeblichen Fehler anfügen. Auch hinsichtlich der perlokutionäre Aspekte würden wir nur wenige Änderungen feststellen können. So würde unsere Kontrahentin wahrscheinlich ebenfalls entrüstet reagieren, wenn auch nun als Teil eines Showkampfes und nach seinen eigenen Regeln. Allerdings würde sich für unsere Kritikübende sehr viel ändern. Sie würde im Laufe des Gesprächs feststellen, dass ihre Kontrahentin tatsächlich gar nicht an ihren sachlichen Einwänden interessiert zu sein scheint. Schlimmer noch, sie würde sich mit willkürlich anmutenden Vorwürfen konfrontiert sehen und feststellen, dass sie gerade als Kritikübende gar nicht ernst genommen wird. Das, was sie sagt, hat seine Bedeutung dabei nicht verloren. Es hat auch weiterhin empirisch bestimmbare Effekte auf das Publikum und ihre Gesprächspartnerin – aber etwas ist fundamental anders. Unsere Philosophin wird nicht länger Kritik üben.
Betrachten wir mit diesem Ergebnis im Blick noch einmal unsere Beschreibung der Ausgangssituation. Eine Philosophin übte Kritik. Eine weitere Philosophin fühlt sich angegriffen. Sie reagiert entrüstet. Die letzte dieser Beschreibungen konnten wir bereits durch die perlokutionäre Seite der getätigten Aussagen erfassen. Wie verhält es sich aber mit den anderen beiden? Beide verändern sich im Wechsel der Diskussionssituation grundlegend. Unter den geänderten Bedingungen ist es nicht nur so, dass einzelne Aussagen andere Effekte haben. Sie nehmen ein gänzlich anderes Gewand an. Im Ring des Showkampfes wird unsere erste Philosophin nicht mehr als Kritikübende auftreten können; und ebenso wird sich ihre Partnerin nicht mehr angegriffen fühlen, sondern sich mit einem tatsächlichen Angriff konfrontiert sehen. Aus Kritik wurde so ein Akt der Provokation. Aus dem Anspruch, gemeinsam die Wahrheit zu finden, wurde ein Versuch, sich rhetorisch zu bekämpfen. Gerade diese Verschiebung macht deutlich, dass eine Analyse von Aussagen über ihre lokutionären und perlokutionären Aspekte hinaus gehen muss. Aussagen enthalten nicht nur logisch artikulierte Gedanken oder erzielen bestimmte empirische Effekte bei ihrer Zuhörerschaft – sie begründen selbst Handlungen. Dies ist ihr illokutionärer Aspekt.
Das wird am Beispiel des rhetorischen Angriffs deutlicher als in der ersten Situation. Indem unsere Philosophin unter geeigneten Bedingungen eine Aussage äußert, überträgt sie nicht nur eine Meinung oder erzielt psychologische Effekte. Sie vollzieht einen Zug in einem bestimmten, sozial abgesteckten Spiel. Diese Spiel kann dabei spielerischer oder auch ernster sein. In jedem Fall trifft unsere Analyse nicht nur den argumentativen Showkampf. Indem unsere Philosophin in der ersten Situation einen sachlichen Kritikpunkt äußert, tut sie etwas. Ihre Worte können wir dabei wie Werkzeuge verstehen, die als Teile oder Supplemente von Handlungen auftreten. So können wir etwa sagen, die Philosophin würde mit ihren Worten ihre Gesprächspartnerin von etwas überzeugen. Oder sie würde sie damit provozieren oder eben auch angreifen. In der Tat sind philosophische Debatten und Showkämpfe wie der – natürlich überzeichnet – skizzierte nicht immer klar zu trennen. Kritik kann die Form eines Angriffs haben. Und das liegt z. T. daran, dass sprachliche Äußerungen nicht nur indirekt über psychologische Fakten bestimmte Wirkungen erzielen, sondern selbst Handlungen darstellen, die unser wechselseitiges Miteinander maßgeblich regulieren. Wir geben diesen Handlungen Namen wie Kritik üben oder Provozieren oder auch Verurteilen oder Versprechen. Ihnen allen ist dabei gemeinsam, dass die geäußerten Worte ihre Sprecherinnen und Sprecher als Handelnde ausweisen – das heißt, als Personen, die mit bestimmten Worten eine bestimmte Praktik vollziehen und dabei in bestimmten sozialen Relationen zu einander auftreten und diese variieren. Das ist die regulierende Funktion, die wir sprachlichen Äußerungen als Handlungen zuschreiben können. Sie betreffen unsere normativen Status zueinander. Indem ich z.B. eine andere Person erfolgreich kritisiere, ändere ich dadurch zugleich ihre Rechte und Pflichten im Rahmen unserer Argumentationspraxis. Die kritisierte Person wird so, gesetzt sie bliebe bei ihrer Meinung, die Pflicht zur Rechtfertigung auf sich nehmen müssen. In anderen sozialen Kontexten werden Äußerungen andere soziale Änderungen mit sich bringen. So werden die Worte „Ja, ich will“ unter bestimmten Bedingungen nicht nur einen Kuss und eventuell Freudentränen nach sich ziehen, sondern auch einen Status-variierenden Zug in einem bestimmten sozialen Spiel ausmachen: Eine Verlobung.
Aber was heißt es dann, für eine Kritikübende, tatsächlich auch Kritik zu üben? Zunächst heißt es, die sozialen Verhältnisse, die wir im Rahmen bestimmter Praktiken einnehmen, verändern zu können. Indem in unserem Beispiel dies einmal möglich war – in der ersten Situation – und einmal nicht möglich war – in der zweiten Situation – wird deutlich, wie wir unseren Opponenten antworten können. Einer ihrer zentralen Kritikpunkte war der, dass Kritik als Metareflexion zu Handlungen selbst keine Handlung begründen könne – denn unter der Annahme des Gegenteils würde sie stets eine Handlung ausführen und so nie eine solche nur hypothetisch betrachten können. Wir können nun sehen, dass dieser Einwand auf einer falschen Vorstellung davon beruht, was es heißt, Kritik zu üben. Kritik erscheint uns nun nämlich wesentlich als Teil einer sozialen Praxis, in der sie gerade um sich erfolgreich auf etwas beziehen zu können, auch einen praktischen Effekt haben muss. Wäre Kritik sozial gänzlich inert, würde sie nie jemanden dazu veranlassen, die eigene Position zu überdenken. Oder anders formuliert: Wäre Kritik keine Handlung, würde sie nie jemanden überzeugen können. Verstehen wir Kritik von ihrer Fähigkeit her, die Rechte und Pflichten einer Person im wechselseitigen Miteinander zu variieren, wird deutlich, dass gerade dies nicht nur für die Wirkungen der Kritik unverzichtbar ist, sondern eben auch dafür, dass sie überhaupt vorliegt. Dies hat unser Beispiel klar werden lassen. In der zweiten Situation war es nicht nur so, dass die Kritik unserer Philosophin die falschen Wirkungen hatte – sie war gar nicht als Kritikübende aufgetreten. Ihre Worte hatten in der veränderten Situation nicht länger die soziale Kraft, die Status der beteiligten Diskutantinnen so zu verändern, wie wir es von Kritik erwarten würden. Es wurde schlicht ein anderes Spiel gespielt. Das aber heißt, es wurden andere Züge vollzogen. Dies ist der zentrale Fehler unserer Opponenten. Indem sie eine sprachliche Äußerung nur von ihren lokutionären Aspekten her verstehen, entgeht ihnen, dass deren Bedeutung maßgeblich davon abhängt, was wir mit ihnen tun. Was wir unter den Worten „Sie missachten fundamentale logische Regeln!“ verstehen, ist in unseren beiden Situationen jeweils etwas gänzlich anderes – und das eben deshalb, weil es sich um zwei verschiedenen Handlungen handelt.

Teil II

Ugly on the outside, brainless on the inside, and sounds cool: Zombie-Kritik

„The skillful traveler leaves no traces of their wheels or footsteps; the skillful speaker says nothing that can be found fault with or blamed“, oder “Gut geht wer ohne Spuren geht” (Laotse) – das könnte ein Slogan für politische Redenschreiber sein, die sich in einer Art von Kritik versuchen, der man nicht widersprechen kann. Sie umfasst unter anderem sogenannte “dog whistles” und metaphorische sowie ironische Redewendungen, die kontextabhängig sind und für das Publikum verschiedenes bedeuten können. So wird ein relativ freier Interpretationsraum geschaffen, damit jede mögliche Kontextualisierung die entsprechende soziale Gruppe ansprechen kann. Diese Sprechakte weichen von rationaler Kritik ab und limitieren für die konkurrierende Oppositionen den übrigen Raum für Gegenargumente. So werden als “dog whistles” oder “code words” die Aussagen bezeichnet, die ausschließlich zu einem bestimmten Publikum sprechen und von den anderen nicht als solche erkannt werden können. Solche Aussagen schaffen daher eine affektive und keine argumentative Wirkung bei ihrem Publikum. Sinn und Meinung sind dann nur angedeutet, ihr Ausdruck und mögliche Reaktionen bekommen so einen doppelten Boden. Derartige Sprechakte sind für den Diskurs grundsätzlich dadurch unterminierend, dass sie ihn subtil und schamlos vermeiden; sie erlauben, je nach Zielgruppe, ein vollkommen verändertes Verständnis des Gesagten.
Redewendungen wie Metaphern oder ironische Sprechakte wirken auf gleiche Weise exklusiv. Paul Grice schrieb über die Logik des Gesprächs, dass diese über einen bloß inhaltlichen Austausch hinausgehe. Dafür bringt er das Konzept der Implikatur ein, womit er meint, dass das wörtlich Gesagte im Gegensatz zum Angedeutetem steht. Für das Gelingen einer Konversation gelten dabei vier Maximen des Kooperationsprinzips: Quantität, Qualität, Art und Weise sowie Relevanz, von denen uns vor allem Qualität und Art und Weise wichtig sind. Unter Qualität versteht Grice, dass der Sprecher das sagen muss, was er selber als wahr betrachtet. Unter Art und Weise hingegen versteht er, dass das Gesagte eindeutig bestimmt sein muss. Eine Verletzung der Maximen kann unterschiedliche Typen der Implikatur erzeugen, wobei die bewusste Missachtung der Qualitätsmaxime und Ironie sowie Metapher besonders wichtig im politischen Bereich sind. Metaphorisches Sprechen bezieht sich auf bestimmte Eigenschaften, die mit einem Objekt assoziiert werden können, anstatt auf das Objekt selbst. Der Sprecher kreiert so eine Verbindung zwischen einem Objekt, um das es wirklich geht, und einer gewissen Vorstellung bzw. typischen Eigenschaften eines anderen Objekts. Man rechnet damit, dass der Angesprochene diese Eigenschaften identifizieren kann und dadurch das nur Angedeutete versteht. Auf diese Weise können wir Grice‘ Analyse mit unserer Betrachtung des metaphorischen Sprechens verbinden: Wenn wir mit Redewendungen implikatieren, führt das zur Missachtung der Qualitätsmaxime bei dem Gesagten. Metaphern erfüllen im politischen Sprechen diese Funktion. Während wir im Alltagssprechen eine Metapher häufig weiter erklären können, ohne den Sinn unserer Aussage zu verändern, geht dies im politischen Diskurs nicht: Metaphern und Ironie sind hier wesentlich für die Aussage. Auf diese Art und Weise können wir im Alltag das Qualitätsprinzip wahren, im politischen Sprechen aber nicht. Dem politischen Sprechen kommt nämlich eine ästhetische Funktion zu, bei der die Form des Gesagten wesentlich für den Inhalt und seine Interpretation ist.
Laut Grice wird es normalerweise von dem Gesprächspartner erwartet, dass er die Implikatur versteht und dem Kooperationsprinzip generell folgt – was aber bei nicht-dialogischen Formen des Gesprächs bzw. sozialer Zielgruppen- Orientierung anders ist. So ist es beispielsweise auch bei kommerzieller Werbung – sprachlicher Manipulation, die prinzipiell genau durch scheinbar offensichtliche, unkritisierbare Truismen kreiert werden kann. In der Rhetorik wird auch von anti-dialogischen Situationen gesprochen, die sozusagen den perfekten Resonanzraum für Propaganda bilden, und das vor allem in einer metatotalitären Gesellschaft mit nur nominaler Dialogizität.
In der Literaturwissenschaft gibt es sogar den Begriff der “toten” Metapher.
Dies bezeichnet die Metaphern, die in die Sprache integriert sind und die metaphorische Aussagen meinen, die wir nicht mehr als solche erkennen, sondern wie eigentliche Rede nutzen. Vor diesem Hintergrund erscheint ironisches und metaphorisches Sprechen im politischen Diskurs eher als eine Art Zombie-Kritik, die nur zum Schein ihre Bedeutung offen manifestiert, aber für einen anderen, nur angedeuteten Zweck gilt. Indem man sich der Argumentation bewusst enthält, appelliert man zugleich an nicht-analytische, nicht-kritische Betrachtungsweisen. Konversationelle Implikatur wird also dadurch erzeugt, dass manche Maximen des Kooperationsprinzips verletzt wurden. Auf der anderen Seite müssen wir auch die Fähigkeit des Rezipienten voraussetzen, die Implikatur zu verstehen, wobei er relevantes Hintergrundwissen braucht. Anderenfalls bekommt Ironie den Charakter dramatischer Ironie, wie man sie aus der antiken, griechischen Tragödie kennt: Dabei versteht das Publikum eine dem Akteur unbekannte Situation auf Grund des dramatischen Kontextes.
Das Ziel des politischen Diskurses ist es dabei nicht, Meinungen und rationale Standpunkte auszutauschen, sondern unter Täuschung der Mehrheit die eigene Zielgruppe anzusprechen. Es ergibt sich daher ein doppelter Erfolg solcher politischen Rede: Auf der einen Seite erreicht sie ihr Zielpublikum und macht sich auf der anderen Seite unangreifbar für kritische Gegenstimmen, da diese gar nicht in der Lage sind, die eigentliche Message zu verstehen. Es entsteht so eine Vermeidung tragischer Ironie für das Zielpublikum bei gleichzeitiger ironischer Täuschung des politischen Gegners. Deswegen ist die affektive Rolle der scheinbar vagen Aussagen im politischen Diskurs bestens geeignet, Kritik gegen sich auszuschließen. Es ist deswegen nicht das Ziel einer politischen Kritik, entweder Gegenargumente klar zu äußern. Es werden hingegen affektive statt argumentativer Muster benutzt, die als Argumente von einer bestimmten Gruppe korrekt gelesen werden und von anderen vollkommen unbemerkt bleiben. Denn die primäre Aufgabe und das Ziel in solchen Fällen war nicht die Vermittlung eines offen zu Tage tretenden Sinnes, sondern immer nur affektiver Appell: per se.

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