Der kleine Gott
Kann etwas denn gänzlich schlecht sein?
Ich schlage die Augen auf. Mein kleiner Gott sieht mich an. Kurz darauf beginnt
er zu schreien und ich bringe ihm sein erstes Opfer dar.
Seit ich 12 Jahre alt bin, verfolgt er mich.
Mächtig genug, um mein Leben zu kontrollieren, allwissend, allgegenwärtig.
Ich bin sein Diener.
Ich stehe auf, dusche, putze Zähne, zieh‘ mich an.
Wieder beginnt mein kleiner Gott zu schreien.
Ich gebe ihm.
Ich verlasse das Haus, gehe zur Arbeit.
Mein kleiner Gott beginnt zu schreien…
Beruhige ich ihn, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis er wieder nach einem
Opfer verlangt. Ob es Sekunden oder Minuten dauert, ist ungewiss. Gewiss ist
nur, dass es nicht aufhört.
Oder?
Ich gebe ihm.
In der Arbeit beherrscht mich der Stress.
Mein kleiner Gott schreit.
Nur ich höre ihn. Ich bin sein Diener.
Ich gebe ihm.
Der Tag ist lang. Ich verbringe die letzten Stunden mit Freunden. Ein Abend in
der Kneipe.
Mein kleiner Gott schreit.
Ich gebe ihm.
„Hey, schön, dass du da bist.“
Ich nicke.
Mein kleiner Gott schreit.
Ich ignoriere ihn. Versuche, mich auf das Gespräch zu konzentrieren.
Mein kleiner Gott schreit.
Meine Gedanken schweifen ab.
Mein kleiner Gott schreit.
Ich gebe ihm.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ich…“
Mein kleiner Gott schreit.
„Hallo?…“
Mein kleiner Gott schreit.
„Sorry“
Ich gebe ihm.
„Was hast du gesagt?“
„Du musst echt lernen, damit umzugehen.“
Mein kleiner Gott schreit.
Eigentlich ein Dämon.
„Ich weiß“
Ich gebe ihm.
„War schön, dich zu sehen. Sag Bescheid, wenn du mal wieder Zeit hast.“
Mein kleiner Dämon schreit.
„Klar, mach ich!“
Ich gebe ihm.
Das Opfer, das er verlangt, ist Zeit.
Ich gebe ihm.
Ich gehe nach Hause. Lege mich ins Bett.
Mein kleiner Dämon schreit.
Ich gebe ihm.
Kann er denn gänzlich schlecht sein?
Mein kleiner Gott schreit.
Ich gebe ihm. – Ohne zu hinterfragen.
Ich schlafe.
Mein kleiner Gott beobachtet mich. Er schläft nie.
Mein kleiner Gott schreit.
Eigentlich hört er nie damit auf.
- #12 Index
- Was ist Kritik?
- Heterotopien als Kritik?
- Stammtischgerede
- Begriff und Form politischer Lebensrealität
- Kritik im und am Theater
- Semantische Bestimmtheit, Regeln und Bedeutungsskeptizismus
- Kunstbeitrag
- Selbst und Kritik
- Der kleine Gott
- Urteil und Kritik
- das kunstkollektiv mo|men|tos
- Interview mit Christoph Menke
- „Das einzige Hindernis für den Fortschritt des Kapitalismus ist der Kapitalismus“
- Die Leichtigkeit schwerer Kritik
- „Determinismus ist Mist“ oder „Eine Geschichte der absoluten Freiheit“
- Grenzgänger
- Bibliographie
- Impressum