Natur und Kultur in der freudianischen Psychoanalyse

Den Begriff der Natur innerhalb der freudianischen Theorie zu erfassen, scheint nur in Abgrenzung zu anderen Begriffen möglich zu sein. Der Begriff selbst findet sich eher sporadisch in seinen Schriften. Generell wird in dualistischen Begriffspaaren, wie Natur und Technik, künstlich und natürlich, Natur und Kultur, die Seite der Natur immer als ein unbearbeiteter, in seinem ursprünglichen Zustand belassener und also vom Menschen unbeherrschter Zustand vorgestellt. In der freudianischen Psychoanalyse ist es fruchtbar Schriften anzusehen, in denen die Natur in den Gegensatz zur Kultur gestellt wird, denn dieser Gegensatz spielt eine wichtige Rolle für das Verständnis der freudianischen Theorie. Freuds Texte Unbehagen in der Kultur und Totem und Tabu schreien geradezu danach, hier Erwähnung zu finden. Den schreienden Texten, die eine Entwicklungsgeschichte des Menschen von einem möglichen Naturzustand zur Kultur nachzeichnen, werde ich innerhalb dieses Artikels Gehör schenken.

Der Eintritt des Menschen in die Phase der Schöpfung von Kultur

Ab wann beginnt der Mensch als Teil der Natur die Phase der Schöpfung (s)einer Kultur? „Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses“, schreibt Freud „stünde […] die Aufrichtung des Menschen“.[1]Freud, Sigmund: „Unbehagen in der Kultur“. (1930) In: Ders.: Fragen der Gesellschaft Ursprünge der Religion, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1974, Bd. IV., S. 191-271, S. 229. Diese „Abwendung des Menschen von der Erde“ macht die „bisher gedeckten Genitalien sichtbar und schutzbedürftig“[2]ebenda. und ruft die Scham durch den biblischen Biss in den verbotenen Apfel der Erkenntnis (des Guten und des Bösen) hervor. Vielleicht ist es das Aufrichten selbst, vielleicht ist der erhoffte Überblick über die Welt und die Erhöhung des Geistigen das, was Gott vermeiden wollte. Weil es ihn stört, oder etwa, weil er uns vor unserem Weg ins Unglück schützen wollte? Weil uns das Verbleiben im rousseauisch-märchenhaften Naturzustand viele Versagungen und Selbstanfeindungen erspart hätte – weil der Kampf gegen die Natur nicht einverleibt, sondern im Außen geblieben wäre? Vielleicht. Aber der Mensch hat entschieden. Die erste gegen Gott gerichtete Lüge, er habe den Apfel nicht gegessen, weckt den Menschen aus seinem unschuldigen, selbstgenügsamen Schlummer, macht ihn zum lügenden und intrigierenden Konkurrenten der Mitmenschen, Gottes, von sich selbst und – von der Natur. Vorausschauend, planend, instrumentalisierend bewegt er sich durch die Welt mit dem Ziel, sich diese zu eigen zu machen. „Als kulturell erkennen wir alle Tätigkeiten und Werte an, die dem Menschen nützen, indem sie ihm die Erde dienstbar machen, ihn gegen die Gewalt der Naturkräfte schützen u. dgl.“[3]ebenda: S.220. Das Momentane tritt hierfür hinter dem Zukünftigen zurück. Handlungen müssen sich ihrer Sinnhaftigkeit für angestrebte Ziele erweisen, müssen sich in ein Konzept fügen. Allein angenehm zu sein, reicht nicht mehr aus – und so wird das Lustprinzip zugunsten scheinbar größerer, umfassenderer Lüste zurückgedrängt. Diese sind: Schönheit, Sauberkeit, Gerechtigkeit und mit dieser auch eben jene Erkenntnis des Guten und Bösen, die der Biss in den Apfel versprach. Was auf der Strecke bleibt, ist die paradiesisch anmutende, momentane Freiheit. Überwiegt in jedem einzelnen Moment die momentane Unfreiheit gegenüber der größeren, instrumentell angestrebten Freiheit, nämlich der Freiheit, sich von der Natur möglichst unabhängig zu machen, sodass jeder Moment Versagung in sich trägt und die Erfüllung nie eintritt? Oder machen uns Konzepte – oder Imperative, wie etwa der kategorische – tatsächlich freier, indem sie uns Alternativen zu den uns determinierenden Naturtrieben aufzeigen? – Sodass wir durch ihre Einverleibung die Freiheit haben, uns entweder frei gegen unsere Natur und für die Imperative zu entscheiden oder unfrei für unsere natürlichen Triebe?

Der Zusammenschuss der Menschen als Beginn von Versagung

Es war naiv von mir zu behaupten, dass Konkurrenz mit Kultur beginne. Nein: Konkurrenz ist natürlich ganz natürlich angelegt. Der Kampf, dessen Ziel ursprünglich das Überleben ist, verschiebt sich im Zusammenschluss der Menschen zum Kampf um die dem Clan angehörigen Frauen.[4]vgl. Freud, Sigmund: „Totem und Tabu“. (1912-1913) In: Ders.: Fragen der Gesellschaft Unsprünge der Religion, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1974, Bd. IV., S. 295-444, S. 426 ff. Wofür Frauen kämpfen, bleibt offen. Vielleicht um die Männer, darum von ihnen besessen zu werden – damit die nächste Strafe Gottes den Mann als verantwortlichen für die Sünde trifft und der schmerzvolle Gebärvorgang (hoffentlich endlich) dem Mann zugeschoben werden kann. Laut Freud trennt sich an diesem Entscheidungsknotenpunkt die Spreu vom Weizen, besser gesagt: die Frau vom Mann. Der Weizen, also der Mann als Ernährer, schreitet eisern fort, wird vor immer schwierigere Aufgaben gestellt, die ihn mehr und mehr zu Triebsublimierungen nötigen[5]vgl. Unbehagen in der Kultur: S. 233. und lässt die Frau, die dieser Aufgaben nicht gewachsen ist, zurück.[6]vgl. ebenda. Die Spreu, also die zur Kulturarbeit unverwertbare Frau, vertritt dagegen die „Interessen der Familie und des Sexuallebens“[7]ebenda., fühlt sich vom Kultur schaffenden Mann vergessen und entwickelt ein feindseliges Verhältnis zum Nebenbuhler um den sie besitzenden Mann. Denn dieser Nebenbuhler namens Kultur ist es, der ihrer ‚Lebensaufgabe der Sexualität‘ Energie entzieht und sich dieser gegenüber verhält wie ein „Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat“.[8]ebenda: S. 233. Ziel der Kultur ist es, „die Mitglieder der Gemeinschaft […] libidinös aneinander[zu]binden“.[9]ebenda: S. 238. Zwischen Mann und Frau muss Libido daher gespart werden, damit die Innigkeit der Familie nicht zur Interesselosigkeit an der Kultur führt.[10]vgl. ebenda: S. 243. Der altfranzösische Arthus-Roman hat dieses Problem erkannt. Ritter haben zwei Pflichten nachzukommen, der Pflicht der Familie, dürfen aber auch die Pflicht des Kampfes (als Kulturgut) nicht vernachlässigen. So problematisiert Chretien de Troyes ein solch unehrenhaftes Verhalten in seiner Geschichte „Erec et Enide“:

„[…] Erec liebte sie so sehr, [2430] dass er das Interesse an den Waffen verlor und nicht mehr zum Turnier zog. Es lag ihm nichts mehr daran, im Turnier zu kämpfen; er wollte in Liebe mit seiner Frau leben […] mit ihr allein beschäftigte er sich, sie zu umarmen und zu küssen […] Oft war es schon nach Mittag, wenn er sich von ihrer Seite erhob; […] Sein ganzes Gefolge meinte, [2455] es sei sehr betrüblich und schade, dass ein solcher Herr wie er doch gewesen war, seine Waffen nicht mehr tragen wollte. Von allen Rittern wurde er so sehr getadelt, [2460] dass Enide es vernahm.[11]Chretien de Troyes, Erec et Enide Altfranzösisch/ Deutsch, ed. et transt. Albert Gier, Stuttgart: Philip Reclam 1987.

Erec ist der Mann, der von seiner Frau und von der Sexualität so in Anspruch genommen wird, dass er die Kulturarbeit vernachlässigt. Die Überhandnahme von Sexualität und Familienverbünden würde das Ende der Kultur als Zusammenarbeit mehrerer Familien bedeuten. Die kulturelle Angst vor einem solchen orgastischen Ausbruch der zurückgedrängten Sexualität, die feindselig gefesselt im Untergrund pulsiert, bleibt zurück, sodass Sexualität in die Einöde (hoppla), Einehe (meine ich natürlich) – und somit mit möglichst geringer Angst vor ihr als vielversprechendem Trigger – zurückgedrängt wird. Zurück bleibt genug Libido, um die widernatürliche Forderung „du sollst deinen nächsten Lieben, wie dich selbst“[12]Unbehagen in der Kultur: S. 238. überhaupt begreifbar zu machen. Widernatürlich, denn, wie Freud erkennt: „Nicht jeder Mensch ist liebenswert“[13]ebenda S.232..
So, wie die Kultur ihren Zuständigkeitsbereich in der Vermeidung eines Zuviel an Liebe sieht, so sorgt sie auch dafür, dass es kein Zuviel an Hass gibt. Sie verlangt vom Menschen, aggressive Neigungen zu unterdrücken – oder das Empfinden einer so unmoralischen Neigung, wie der aggressiven, einfach generell zu verdrängen. Das Gewissen ist maßgeblich an diesem Prozess der Verdrängung beteiligt, der grundlegend für die Entstehung von Neurosen sein wird. Dieses Gewissen entsteht in der biblisch anmutenden Geschichte des Vatermords. Der Vater als Clanführer wird im Rausch der Konkurrenz und des temporär aufflammenden Hasses durch seine Söhne ermordet. Sie morden aus Neid und Rebellion gegen die Ungerechtigkeit, dass eben dieser die Verfügung über die Frauen innerhalb des Clans hat – also aus moralisch niederen Beweggründen.[14]Vgl. Totem und Tabu: S. 427. Das Gewissen entsteht durch die Reue über diese Tat am Vater.[15]ebenda. Der verzweifelte Versuch, die Tat ungeschehen zu machen, die Tat zu widerrufen, führt die Söhne dazu, auf Triebe zu verzichten – aus Liebe und nachträglicher Ehrerweisung dem getöteten Vater gegenüber. Das erste Tabu ist an diesem Punkt der Geschichte entstanden. Dieses Verbot des Tötens ist notwendig. Denn der nicht so liebenswerte Nächste ist genauso wie alle anderen weniger möglicher Helfer, sondern…

„auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.“[16]Unbehagen in der Kultur: S.240.

Der aggressive, sexvernarrte Mensch hat sich mit der Erkenntnis des Guten und Bösen selbst ein Maß gegeben, indem er die eigenen ‚bösen‘ Strebungen erkannt und auf diese reagiert hat. Seinen Aggressionstriebes und seine Sexualität tauscht er gegen das Funktionieren einer Gemeinschaft und somit gegen ein Stück Sicherheit.[17]Vgl. ebenda: S. 243.

Und nun, meine ich, ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muß uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebens- und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht.[18]ebenda: S. 249.

Das Gewissen entsteht aus dem Vatermord und speist sich aus den umgeleiteten, aggressiven Triebenergien, die auf den Grenzen-übertretenden Menschen zurückgeleitet werden, sodass sich mit jedem Triebverzicht die Intensität des Gewissens mit all seinen Forderungen und Bestrafungen steigert. Das Gewissen beißt und verzehrt den Menschen und macht ihm (mit weiteren Gehilfen) Geschenke, wie neurotische Störungen.
Diese einschränkende und Sicherheit bringende Kultur ist Kern der psychischen Leiden der Menschen. Neurosen entspringen aus Triebverzicht, aus missglückten Umleitungen von unliebsamen Trieben, aus Verdrängungen und Zensuren von latenten unmoralischen Wünschen, aus Bestrafungen des Menschen durch das eigene Gewissen und durch einige weitere wundersame Prozesse. Eine Hoffnung, die Freud offenlässt, ist die Erwartung, dass „sich allmählich solche Abänderungen unserer Kultur durchsetzen, die unsere Bedürfnisse besser befriedigen“.[19]ebenda: S. 244. In väterlich-einfühlsamem Ton weist er aber auch darauf hin, dass wir uns mit der Idee vertraut machen sollten, dass es „Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden“[20]ebenda..

Die in der NS-Zeit in den Dienst gestellten Aggressionstriebe

Freuds 1930 erschienener Text Unbehagen in der Kultur ist geprägt von der Stimmung des letzten Weltkrieges, dem überhandnehmenden Antisemitismus und der Ahnung des nächsten Weltkrieges. Er ist geprägt von Freuds Wahrnehmung der antisemitischen Aggression der Deutschen. Immer wieder finden sich Anspielungen, die in traurigen und auf freudianische Art und Weise auch berührenden Intellektualisierungen der Wahrnehmung des Hasses bestehen, der in Europa zu dieser Zeit stattfindet. Homo homini Lupus, schreibt Freud über den Aggressionstrieb und fragt: „wer […] nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut [habe], diesen Satz zu bestreiten?“[21]Das Unbehagen in der Kultur: S. 240.. Die latent vorhandene „grausame Aggression warte[t] in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht“[22]ebenda., schreibt Freud und sagt vorher: Sobald eine solche Provokation gegeben ist und die kulturell auferlegten, eindämmenden Gegenkräfte, wie die Bildung des Gewissens, einen Anlass haben, wegzufallen, „äußert sie sich auch spontan und enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der Art fremd ist“[23]ebenda.. Freud verweist an dieser Stelle auf die Gräuel der Völkerwanderungen, die Einbrüche der Hunnen usw., weist aber zugleich (gewollt oder ungewollt) in die Zukunft, an deren Horizont sich der Holocaust – als schlimmste Ausprägung der ungehemmten, pervertierten, brutalen, erbarmungslosen, skrupellosen, bestialischen im Menschen schlummernden Aggression – abbildet.

Literatur:

  • Chretien de Troyes, Erec et Enide Altfranzösisch / Deutsch, ed. et transt. Albert Gier, Stuttgart: Philip Reclam 1987.
  • Freud, Sigmund: „Totem und Tabu“. (1912-1913) In: Ders.: Fragen der Gesellschaft / Ursprünge der Religion, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1974, Bd. IV., S. 295-444
  • Freud, Sigmund: „Unbehagen in der Kultur“. (1930) In: Ders.: Fragen der Gesellschaft / Ursprünge der Religion, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1974, Bd. IV., S. 191-271

Referenzen

Referenzen
1 Freud, Sigmund: „Unbehagen in der Kultur“. (1930) In: Ders.: Fragen der Gesellschaft Ursprünge der Religion, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1974, Bd. IV., S. 191-271, S. 229.
2, 7, 15, 20, 22, 23 ebenda.
3 ebenda: S.220.
4 vgl. Freud, Sigmund: „Totem und Tabu“. (1912-1913) In: Ders.: Fragen der Gesellschaft Unsprünge der Religion, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1974, Bd. IV., S. 295-444, S. 426 ff.
5 vgl. Unbehagen in der Kultur: S. 233.
6 vgl. ebenda.
8 ebenda: S. 233.
9 ebenda: S. 238.
10 vgl. ebenda: S. 243.
11 Chretien de Troyes, Erec et Enide Altfranzösisch/ Deutsch, ed. et transt. Albert Gier, Stuttgart: Philip Reclam 1987.
12 Unbehagen in der Kultur: S. 238.
13 ebenda S.232.
14 Vgl. Totem und Tabu: S. 427.
16 Unbehagen in der Kultur: S.240.
17 Vgl. ebenda: S. 243.
18 ebenda: S. 249.
19 ebenda: S. 244.
21 Das Unbehagen in der Kultur: S. 240.

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