Alienated Nature

Über die begriffliche Trennung von Natur und Kultur – Ein Vermittlungsversuch

Von Svenja Zintl

Man stelle sich vor, Aliens ließen sich auf einem artenreichen und lebensfreundlichen Planeten nieder. Sie beginnen, diesen Planeten zu bewirtschaften, bauen ihre Siedlungen auf einst bewaldete Flächen, domestizieren Tiere und züchten sie zu ihrem Nutzen heran. Die Aliens vermehren sich rapide und so wird immer mehr der ursprünglichen Natur des Planeten für die landwirtschaftliche Bewirtschaftung brachgelegt. Die Artenvielfalt der Meere wird zugleich durch intensive Befischung und starke Verschmutzung durch allerlei Abfallprodukte gefährdet. Außerdem ist der technische Fortschritt der Aliens unaufhaltsam: Zur Energiegewinnung wird in Massen CO2 in die Atmosphäre geblasen. Auch der an ihre technischen Möglichkeiten angepasste Lebensstil der Aliens fordert seinen Tribut. Der einstmalige Artenreichtum verringert sich im Nu, ökologische Veränderungen vollziehen sich weit schneller, als es natürliche Schwankungen des Ökosystems veranlassen würden. Die Welt, wie sie vor der Ankunft der Aliens war, gibt es schon lange nicht mehr.
Bei diesem Szenario handelt es sich nur vordergründig um eine Science-Fiction-Dystopie. Je nach eigener umweltpolitischer Einstellung kann man das hier gezeichnete Bild für mehr oder weniger treffend, für moralisierend überzeichnet oder einen notwendigen Weckruf halten. Jedenfalls ist es ein Gedankenexperiment, das die Folgen menschlicher Zivilisation auf „Mutter Natur“ aufzeigen soll.
Die Bewirtschaftung der Natur muss jedoch nicht wie im vorgestellten Szenario in Ausbeutung und Zerstörung münden. Möglich ist auch, dass der Mensch maßvoll in die Natur eingreift. Doch alleine die Wortwahl offenbart, dass es sich eben doch um einen Eingriff von außen handelt. Mensch und Natur scheinen zwei entgegengesetzte Pole zu sein.

Voraussetzung dafür ist die strenge begriffliche Trennung zwischen Natur und Kultur: Der Mensch als kultivierendes Wesen dringt gleichsam als Alien in die unberührte Natur der Erde ein. Ob eine solche Trennung aber überhaupt förderlich für den Schutz dessen ist, was wir als Natur verstehen, soll im Folgenden erörtert werden. Insbesondere stellen sich die Fragen, ob die enge begriffliche Trennung von Natur und Kultur eine Vermittlung umweltpolitischer Überzeugungen nahezu unmöglich macht, darüber hinaus, ob eine solche Trennung überhaupt durchgehalten werden kann. Am Ende folgt der Versuch einer Vermittlung.

Das Muster ist klassisch: Menschliche Kultur markiert die Gegenwelt zur unangetasteten Ursprünglichkeit von Natur. Land, von menschlicher Hand bewirtschaftet, im strengen Sinne des Wortes kultiviert, gilt als widernatürlicher Eingriff in die Umwelt – aus der Zivilisation kommt etwas Fremdes in die Natur hinein, sie wird von außen beeinflusst, transformiert und im schlimmsten Falle zerstört.
Wo nun die Extrempositionen von militantem Naturschutz und fortschrittsgläubiger Naturkolonisation aufeinanderprallen, scheint es kaum Raum für Vermittlung zu geben. Doch so unterschiedlich die Positionen auch sein mögen, die sich hier gegenüberstehen – ich möchte behaupten, dass sie gerade deshalb so unvereinbar sind, weil beide als Weltbild den Dualismus von Natur und Kultur teilen. Dieser Dualismus führt außerdem dazu, dass eine Präferenz für die eine oder andere Seite einem Bekenntnis gleichkommt. Der Konflikt zwischen Naturschutz und -kolonisation wird dadurch zum Glaubenskrieg.

Zunächst eine kurze Erklärung, was hier unter den beiden vermeintlichen Kontrahenten Naturschutz und Naturkolonisation verstanden wird: Naturschützer vertreten eine Umweltethik, deren Fokus auf der außergesellschaftlichen Welt fernab eines vom Menschen konstruierten Horizonts liegt. Das Ursprüngliche, Unangetastete muss vor dem Menschen bewahrt werden, und gerade weil die Ausdehnung der Zivilisation das schwierig macht, müssen wenigstens partiell abgeschlossene Räume von menschlicher Beeinflussung unversehrt bleiben. Die Natur wird hier von allem, was menschlich konstruiert und transformiert ist, verselbständigt und entrückt.
Auch die bekennenden Profiteure der Naturbewirtschaftung – und -ausbeutung – setzen diesen Kontrast zwischen Natur und Kultur unhinterfragt voraus. Sie werden hier unter dem Begriff „Naturkolonisten“ zusammengefasst. Im Gegensatz zu den Wertevorstellungen des Naturschützers vertreten Naturkolonisten eine weit anthropozentrischere Fortschrittsmoral, deren Anspruch es ist, Produktion und Wachstum zu vergrößern und technische Entwicklungen zu fördern. Sich dabei der Natur zu bedienen, sich sogar ihrer zu bemächtigen, ist ein legitimes, wenn auch manchmal etwas schmerzhaftes Mittel zum Zweck zivilisatorischen Fortschritts. Auch ihnen fällt es mitunter schwer, romantisierte Wälder schwinden zu sehen, doch wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne.
Somit gilt für letztere die menschliche Zivilisation und Kultivierung, für erstere dagegen die von der Kultur unterschiedene Natur als höchstes Gut, von welchem der weitere Verlauf ihrer Argumentation abhängig wird.
Freilich sind diese Standpunkte als Extrempositionen überzeichnet. Hierdurch können jedoch Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser herausgestellt werden.
Bei einer strikten Entgegensetzung von Natur und Kultur ist man also gezwungen, entweder das eine oder das andere als den Wert anzusehen, dem die höchste Priorität zukommt. Innerhalb dieser Begrifflichkeit erscheinen beide Bekenntnisse legitim. Denn die jeweiligen Gegner mögen die anthropozentrische Sichtweise für egoistisch und selbstüberhöhend, die global-ökologische Sichtweise für ideologisch-verblendet, menschenfeindlich und rückschrittlich halten – die jeweilige Argumentation, führt man sie auch sachlich aus, überzeugt nur denjenigen, der sich bereits bewusst oder unbewusst einem der Pole verschrieben hat. Der Imperativ ist sowohl für Naturschützer als auch -kolonisten stets hypothetisch: Nur relativ zu dem Interesse, das ich vertreten möchte, bin ich zu bestimmten Maßnahmen normativ verpflichtet. Ob das besondere Interesse nun Natur und Kultur zukommt, ist dagegen durch eine Entscheidung oder die jeweils prägende Ideologie bestimmt.

Ist zwischen diesen beiden Weltbildern eine Vermittlung überhaupt möglich? Im realen Geschehen werden, wie überall in Bereichen, in denen Politik gemacht wird, selbstverständlich Kompromisse geschlossen. Allein schon die Entscheidungsfindung mit den Vertretern der gegnerischen Position verlangt es, Zugeständnisse zu machen. Eine Vermittlung aber, die zwei Fraktionen nicht nur zwingt, dem Frieden zuliebe einen Mittelweg zu suchen, sondern auch die Position des einen dem anderen gegenüber nachvollziehbar und verständlich macht, scheitert spätestens bei der Frage der letzten Priorität. Der Konflikt zwischen Naturschützern und Naturkolonisten ist bei diesem dualistischen Naturverständnis prinzipiell unauflöslich.

Wenn diese Unauflöslichkeit des Konflikts also der strikten begrifflichen Trennung von Natur und Kultur unterliegt, so wäre es naheliegend, diese Trennung zu hinterfragen. Tatsächlich ist laut dem französischen Anthropologen Philippe Descola unser westlicher Natur-Kultur-Dualismus nicht selbstverständlich. So gibt es für viele indigene Völker gar keinen richtigen Unterschied zwischen Zivilisiertem auf der einen und Wildem auf der anderen Seite. Das scheinbar Konstruierte und Ursprüngliche fällt zusammen. Sie sehen sich nicht als soziale Kollektive an, die ein Ökosystem verwalten, sondern als Teil eines größeren Ganzen (Descola, 40). Auch in einigen moderneren Gesellschaften wie Indien oder Japan ist das dualistische Natur-Kultur-Schema nicht in der Weise das bestimmende Weltbild, wie es in der westlichen Welt vorherrscht (Descola, 58f).
Ein bereits etabliertes dualistisches Natur-Kultur-Schema kann sicherlich nicht spontan in ein holistisches Weltbild umgewandelt werden, in dem sich Ursprüngliches und Konstruiertes wechselseitig durchdringt. Dass eine strenge Trennung jedoch schwer eingehalten werden kann, zeigt sich dadurch, dass diese Trennung auch innerhalb unserer Denkmuster bei genauem Hinsehen gedankliche Konflikte hervorruft:

Dass die begriffliche Trennung von Natur und Kultur nicht konsequent durchgehalten werden kann, zeigt sich schon bei der Verwendung der jeweiligen Begriffe. Nach § 1 des Bundesnaturschutzgesetzes umfasst der Schutz der Natur (auch) Pflege, Entwicklung und Wiederherstellung von Natur und Landschaft. Schon dieser Satz trägt mindestens einige Verwirrung, wenn nicht gar einen handfesten Widerspruch in sich: Inwiefern lässt sich „Natur“, also das Ursprüngliche, Originäre, eben Natürliche wiederherstellen? Ist nicht jeglicher Eingriff, der dazu dient, Landschaften nach gewissen Vorstellungen zu formen, widernatürlich?
Es ist verständlich, dieses Problem für etwas spitzfindig zu halten. Es bedarf schließlich keiner übermäßigen Fantasie sich vorzustellen, was unter einer Wiederherstellung der Natur gemeint sein könnte: nämlich die Entwicklung hin zu einem möglichst naturnahen Ökosystem, wie es vor der Bewirtschaftung des Menschen wohl ausgesehen hat. Diese Erklärung scheint beispielsweise sehr gut die heutige Tendenz im Forstwesen, aus Monokulturwäldern langsam wieder „naturnahe“ Mischwälder zu machen, aufzugreifen. Bei genauerem Hinsehen erklärt sich allerdings nicht immer so selbstverständlich, was wir unter „Natur“ verstehen. Auf begrifflicher Ebene ist beispielsweise unklar, ob Natur mit „vom Menschen Unangetastetes“ gleichgesetzt wird oder ob Natur im Sinne des Naturschutzes sich nicht auch Elemente der Ästhetik, Romantik und anderer menschlicher Bezugsweisen zum Natürlichen zu eigen macht.

Beim Sprechen über Natur scheint diese immer schon mit der Kultur verzahnt zu sein. Unser Naturbegriff scheint zu implizieren, dass Natur normalerweise als Gegenstück zu einer menschlichen Praxis auftritt, in der sich der Mensch in bestimmter Weise zur Natur verhält. Schon in der frühen Menschheitsgeschichte war das Reden über Natur und Landschaft kulturell geprägt und hatte selten objektive Beobachtung zum Ziel. Eine der wohl eindrücklichsten historischen Erzählungen über den undurchdringlichen wilden Wald stammen von den Autoren des Alten Roms. Cäsar berichtet in De bello Gallico von den unwegsamen und schier unendlichen Wäldern Germaniens, in denen man zwei Monate unterwegs sein konnte, ohne sie zwischendurch wieder zu verlassen. Auch Plinius der Ältere erzählt von der Wildnis Germaniens, die außer die Küstenregionen das ganze Land bedeckte. Tacitus formte – ohne je da gewesen zu sein – das Bild einer grauenerregenden Landschaft aus Wald und Sumpf und charakterisierte passend dazu die rauen Sitten der Bevölkerung (Zechner, 16 ff.).
Dieses von den Römern gezeichnete Bild entstammt jedoch einem damals gängigen Narrativ von Barbaren-Stereotypen: Römische Autoren beschrieben gerne die aus ihrer Sicht unzivilisierten und verdorbenen Völker, indem sie einen Zusammenhang zwischen deren Kollektivcharakter und der angeblichen ungebändigten Umwelt, in der sie lebten, herstellten (Zechner, 20) Die Landschaft Germaniens bestand jedoch keineswegs ausschließlich aus dichtem Urwald; stattdessen wechselten sich Waldgebiete mit Siedlungsgebieten, Moorarealen und Heideflächen ab. Auch wenn die bewaldeten Gebiete Germaniens diejenigen des damaligen Italiens übertroffen haben, zeugt dies nur davon, dass die alten Römer aus einer Vergleichsperspektive heraus geurteilt haben (Zechner, 20).
Als im 15. Jahrhundert die Schriften der Römer wieder auftauchten, wurden sie für deutschsprachige Humanisten zum Identitätszeugnis, betrachteten sich doch die Deutschen als direkte Nachfahren der Germanen (Zechner, 18). Der deutsche Wald wurde in der Romantik schließlich zum Sinnbild einer Nation, er musste als Kulisse für Märchen und Gedichte herhalten und diente als Sehnsuchtsort. Bezeichnend ist, dass in der Romantik gerade diejenigen Landschaften als besonders ursprünglich und unberührt angesehen wurden, die erst durch die menschliche Kultivierung entstanden sind oder zumindest dadurch begünstigt wurden. So wurden noch im 20. Jahrhundert die sogenannten Hudewälder mit ihren knorrigen Bäumen von Naturschützern für den Naturwald schlechthin gehalten, wie er schon in der Zeit der Germanen bestanden haben musste. Rekurriert wurde auf die Landschaftsgemälde von Malern der Romantik wie Caspar David Friedrich, der lichte Wälder in diesem Stil häufig zu seinem Motiv machte (Küster, 209 ff.). Tatsächlich aber konnten diese Landschaften nur dadurch entstehen, dass diese Gegenden jahrhundertelang beweidet wurden und das Vieh immer wieder Triebe abgebissen hatte. Die einzelnen übriggebliebenen Bäume, oft Eichen, die bewusst als Masteichen zur Fütterung des Viehs geschützt wurden, waren mehr als im eigentlichen Wald Wind und Wetter ausgesetzt. Verbiss und Wetter führten so zu den als urtümlich angesehenen knorrigen Wuchsformen, die sich aber ohne die menschliche (Über-)Bewirtschaftung in den seltensten Fällen so entwickelt hätten. Auch Heidelandschaften sind häufig auf diese Bewirtschaftung zurückzuführen (vgl. Küster, S. 114 ff., 141, 167).
Dass es sich bei den heute geschützten Landschaften nicht nur um Urwald, sondern auch um Kulturlandschaften handelt, ist sicherlich den meisten bekannt. Manchmal wirkt es jedoch, als würde man mit dem Label „Natur“ auch dann, wenn es im weiteren Sinne verstanden werden will, hinter einem Schleier von Ursprünglichkeit auch andere (durchaus berechtigte) Interessen verbergen wollen. Am Beispiel von Hudewald und Heide wird deutlich, dass solche Landschaften einen durchaus ästhetischen Wert haben. Naturschutz bezieht in vielen Fällen auch diese Werte mit ein und sollte dies auch tun dürfen, ohne den Deckmantel des menschlich Unberührten und Unberührbaren zu bemühen.
Würde es zu weit gehen zu behaupten, der Naturschutz folge den Gesetzen des Marktes (so Radkau, S. 33)? Geschützt soll immerhin meistens das werden, was selten ist; der Wert wird also gleichsam an Angebot und Nachfrage festgemacht. Geschützt wird nur vordergründig das Natürliche um seiner selbst willen; letztlich geht es um den Wert, den wir der Natur zuschreiben. Auch der Vorwurf der anthropozentrischen Letztbegründung wird in diesem Zusammenhang laut: Das Aussterben von Insektenarten beispielsweise sei doch letztlich deshalb eine Katastrophe, weil es akute wirtschaftliche Probleme nach sich ziehe. So zeigt die Ausrottung der Bienen in Teilen Chinas, welche Auswirkungen es für unsere Kultur hat, Blütenbestäubungen für Obstplantagen künstlich durchführen zu müssen.
Dass anthropozentrische Bezüge im Natur- und Umweltschutz immer eine Rolle spielen, ist unbestritten. Dem subjektiven Anspruch der Naturschützer wird eine solche Betrachtungsweise jedoch nicht gerecht. Ihnen geht es in den seltensten Fällen um das bloße Fortbestehen der Menschheit. Natürlich hat auch dieses Ziel durch das steigende Bewusstsein für die verheerenden Folgen des Klimawandels an Bedeutung gewonnen. Dem Naturschützer kommt es noch immer hauptsächlich auf den Eigenwert der Natur an:
Angenommen, die Weltbevölkerung hätte die einmalige Möglichkeit, geschlossen von der Erde auf einen paradiesischen Planeten überzusiedeln, dessen Ökosystem auf alle jetzigen und zukünftigen Bedürfnisse der Menschheit zugeschnitten ist. Der einzige Haken daran ist, dass durch den Antrieb des unvorstellbar großen Raumschiffs, das die Menschheit geschlossen dorthin bringen kann, die Flora und Fauna der Erde komplett zerstört würde. Vermutlich würden die wenigsten Naturschützer dem zustimmen, nur um der Menschheit einen Vorteil zu verschaffen. Ihr Anspruch ist es vor allem, die Natur losgelöst von menschlichen Interessen zu behüten, und zwar in erster Linie vor dem Menschen. Das Ausweisen von Nationalparks, eines streng von der Kultur abgetrennten Areals, frei von Bewirtschaftung und menschlichen Eingriffen, kann als Beispiel dienen. Die Idee des Sich-Selbst-Überlassens ohne forstwirtschaftliche Eingriffe – und damit auch ohne ökonomischen Mehrwert – betont eindeutig den Eigenwert der Natur.
Auch Naturkolonisten stehen dem Umweltschutz nicht kategorisch feindlich gegenüber. Denn selbst sie sehen ein, dass exzessive Naturausbeutung der Menschheit auf lange Sicht den Ast absägt, auf dem sie sitzt – zumindest, soweit sie einschlägigen wissenschaftlichen Prognosen Glauben schenken. Doch wenn sie für die Stabilisierung des ökologischen Gleichgewichts eintreten, dann hauptsächlich als Mittel zum Zweck für den Fortschritt der Zivilisation und damit der menschlichen Kultur. Bei ersteren gilt die Natur, bei letzteren die Kultur als oberstes Gut. Für beide besitzt die Natur einen Wert – im Falle des Naturschützers ist es (ihrem Selbstverständnis nach) ein eigenständiger, für Naturkolonisten ein abgeleiteter.

Wenn man bedenkt, dass das Erscheinungsbild der meisten europäischen Waldgebiete seit Jahrhunderten unter menschlichem Einfluss steht, was vom Waldspaziergänger jedoch häufig ausgeblendet wird, wenn dieser von der Schönheit der Natur schwärmt, hinkt das Bild der Gegensätzlichkeit von Natur und Kultur. Auch der Förster, der mit der Bewirtschaftung des Waldes betraut wird, wählt seinen Beruf meistens vor allem aus Liebe zur Natur – derjenigen Natur, die er gemäß der strikten Sphärentrennung von Natur und Kultur durch seinen menschlichen Eingriff selbst gefährdet? Im Falle des Nationalparks wird die Natur mehr als sonst verselbständigt, indem sie sich unter Ausschluss alles Menschlichen entwickeln soll. Gleichzeitig wird ein Nationalpark mehr als jeder vormals genutzte Wald zum Kulturgut, sogar zum kulturellen Vorzeigeprodukt. Das Natürliche wird so selbst zum Konstruierten – nicht zuletzt, um das, was noch nicht mit dem Etikett „Natur“ versehen wurde, nach Belieben ausbeuten zu können. Schließlich wird die unantastbare Natur erfolgreich geschützt, der ansonsten schon ohnehin kulturell überformte Raum steht somit zur ökonomischen Verfügung. Die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur dient damit in gewisser Weise umso mehr der selbstsüchtigen Ausplünderung desjenigen, was ohnehin nicht mehr als natürlich gilt.

Sobald sich jedoch der Mensch nicht mehr als Eindringling, sondern als Teil der Natur begreift, bearbeitet er bei ihrer Bewirtschaftung nicht mehr etwas Fremdes, sondern mittelbar sich selbst – Er gestaltet so seine Lebensgrundlage und gleichzeitig etwas, für dessen Erhalt er als unbedingtem Wert eintreten möchte; eben als einem von ihm gesetzten Wert. Es ist nicht zu verurteilen, wenn wir Naturlandschaften schützen wollen, auch weil wir sie schön finden und nicht nur als abstrakten Lebensraum für Flora und Fauna betrachten, die nicht unmittelbar etwas mit uns zu tun haben. Ästhetik und Emotion sind auch heute noch Gründe für Naturschutz – man muss sie nicht unter objektivierender Ökologie verbergen.
Wenn der Mensch annimmt, dass die Natur ihn und umgekehrt er die Natur durchdringt, wird er umsichtiger mit dieser umgehen, sich auf der anderen Seite aber auch nicht mehr selbst ausschließen und Eingriffe als verdammungswürdiges Übel ansehen.
Wir sind keine Aliens, die als Fremde einen Planeten okkupiert haben, der uns gleichsam selbst fremd ist – nicht zwei Gegenspieler, die sich auf strikt getrenntem Terrain gegenüberstehen, sondern ein Kreislauf, dessen von uns als „Natur“ verherrlichte Ursprünglichkeit unsere „konstruierte“ Kultur hervorgebracht hat, und die wir nun wiederum stetig verändern, indem wir sie bearbeiten oder auch nach jahrhundertelanger Bewirtschaftung scheinbar sich selbst überlassen.
Durch die Lockerung des strengen Natur-Kultur-Schemas werden freilich nicht alle Fragen der Gewichtung von Umwelt- und Artenschutz bzw. technischen Eingriffen in die Umwelt aufgelöst. Doch der Rahmen, in dem eine Debatte darüber stattfinden kann, wird insgesamt zugänglicher, wenn sich ihre Disputanten nicht mehr einer von zwei sich ausschließenden Ideologien verschrieben haben, deren Argumente für die Gegenseite nicht gelten können. Es kann ein Spielraum für Argumente dann auf gleichem Boden stattfinden, wenn sich jeder bewusst ist, dass die Natur insoweit uns gehört, als wir ihr gehören.

Literatur:

Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur. Berlin, Suhrkamp, 2011

Küster, Hansjörg: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München, C. H. Beck, 2013

Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München, C. H. Beck, 2012

Zechner, Johannes: Der deutsche Wald: eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie: 1800-1945. Darmstadt, Philipp von Zabern, 2016

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