Zum Bewusstsein der Moderne

Dass die Moderne – als Epochenzeitraum, der um die Jahrhundertwende gruppiert wird – kein einheitliches kulturelles Projekt bezeichnet, wird unter anderem dadurch kenntlich, dass Modernität ihrem Wesen nach sich selbst überholt. Zum Ausdruck „Das Ende der Moderne“ schreibt Robert Spaemann: „’Modern‘ ist ja an sich ein altes, durchaus formales und relatives Prädikat, das jeweils die eigene Jetztzeit meint. Von daher gesehen, kann es so etwas wie ein ‚Ende der Moderne‘ gar nicht geben, sondern nur das Veralten des einmal Modernen und seine Ablösung durch eine neue Modernität“.[1]Robert Spaemann, „Ende der Modernität?,“ Robert Spaemann: „Philosophische Essays“ (2005): 23. Woran merkt man besser, dass etwas modern ist, als daran, dass es diesen Charakterzug im Handumdrehen verlieren wird? Es fällt so zunächst schwer, dem Begriff der Moderne eine aussagekräftige Charakteristik abzugewinnen, die sich für ein Verständnis der so bezeichneten Epoche fruchtbar machen ließe. Spaemann führt diesen Gedanken fort: „Das Eigentümliche am Begriff der Moderne liegt darin, daß er nicht eine irgendwie inhaltlich oder temporal bestimmte Epoche deshalb modern nennt, weil sie unsere ist, sondern daß eine Epoche durch nichts als dadurch charakterisiert wird, daß sie die Moderne sei. (…) Sie ist sozusagen ein offenes, unabschließbares Projekt, dessen Beendigung und Ablösung durch eine neue Epoche gleichbedeutend mit seinem Scheitern wäre.“[2]Ebd., 232 f. Spaemanns weiter Ausführungen versuchen diesen Punkt um inhaltliche Charakterzüge anzureichern, die selbst nicht nur aus der Bestimmung der Moderne als modern gewonnen werden. Wir wollen hingegen dem Gedanken Raum geben, die Moderne sei tatsächlich primär als jenes Offene zu verstehen, dessen inhaltliche Merkmale um einen wesentlichen Charakterzug kreisen, den der Selbstüberholung.
Was heißt es, Selbstüberholung sei das Epochenmerkmal der Moderne? Was diese Beschreibung
von anderen Moderne-Kriterien abhebt ist ihr retrospektiver Charakter. Etwas kann nur dann als
sich selbst überholend verstanden werden, wenn es diesen Akt bereits vollzogen hat; d.i. sich in einem Zustand befindet, in dem es genau dadurch als aktuell erkannt wird, dass es eben schon überholt ist. Marx berüchtigte Worte von der Sprengkraft der Bourgeoisie lesen sich daher wie eine Formel für das Prinzip der Moderne: „Alles Ständische und Stehende verdampft“.[3]Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (Stuttgart: Reclam, 2005), 23. Marx verbindet diese Formel nicht direkt mit der entfalteten kapitalistischen Produktion, sondern wendet sie zunächst auf ein deutlich weiteres Feld historischer Phänomene an. Er charakterisiert das bürgerliche Zeitalter insgesamt. Die gesellschaftliche Organisation dieses Zeitalters gerät daher zu einem Stand der Dinge, in dem diese notwendig sich selbst verwerten. Diese Verwertung kann dabei nicht nur auf die kapitalistische Warenwirtschaft bezogen werden, sondern findet sich auch in den Formen des modernen Bewusstseins selbst. Exemplarisch für eine solche Thematisierung des modernen Blicks auf die Welt ist die Betrachtung der Geschichte, wie wir sie in W. G. Sebalds Roman Die Ringe des Saturn finden – eine in Sebalds Worten „beinahe nur aus Kalamitäten bestehende Geschichte“[4]W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn (Frankfurt/Main: Fischer, 2015), 350.. Ihr Begriff wird uns Aufschluss über die Selbst-Überholung der Moderne geben.
Sebald hat der Moderne den Übergang von Geschichtlichem in Natürliches diagnostiziert. Was in
der Moderne historisch entstanden ist, erscheint nicht abgelegt in einzelnen Kulturgütern, sondern wird zur gleichsam natürlichen Grundlage des Lebens. Den Grund dafür hat Marx benannt: Indem die bürgerliche Gesellschaft sich als sich selbst überholend organisiert, genügt der einmalige Akt der Umwälzung aller Lebensbedingungen nicht mehr; weil nur dasjenige modern ist, was sich zugleich als obsolet weiß und verwandelt, ist die Prozessierung aller Lebensbedingungen selbst das fortwährende Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Als solches Prinzip ist es natürliche Grundlage der Moderne. Sebald findet für diese Naturalisierung im Leben der Seidenraupe ein emblematisches Bild: „Ein paar Tage nach der letzten Häutung bemerkt man am Hals [der Raupe] eine Röthe, das Zeichen, daß die Zeit der Verwandlung nahe ist. Die Raupe hört auf zu fressen, läuft rastlos herum, strebt gegen die Höhe und, gleichsam die niedere Welt verachtend, gegen den Himmel an, bis sie den rechten Platz gefunden hat beginnen kann mit ihrem Gespinst (…). Wenn man eine mit Weingeist getötete Raupe längs des Rückens aufschneidet, so erblickt man ein Bündel vielfach durcheinander gewundener Röhrchen, die wie Gedärme aussehen. (…) Und dann baut sie, indem sie immerfort den Kopf hin und her bewegt und so einen ununterbrochenen, nahezu tausend Fuß langen Faden aus sich heraushaspelt, die eigentliche eiförmige Hülle um sich herum.“[5]Ebd., 326.
Der Natur, dem unmittelbar Vorgegebenen des Bewusstseins, entspringen die Rastlosigkeit der Aktion, ihr Fortschrittsglaube, die Unwissenheit im Taumel nach vorne; der „rechte Platz“ ist dann folgerichtig der Ort einer Verwandlung, die dem Individuum sein Inwendiges umstülpt. Was so sichtbar wird ist aber nichts anderes als das Material der Verwandlung selbst. Von Autonomie oder Selbstbestimmung kann dabei keine Rede sein, vielmehr erscheint das, was den Einzelnen innerlich bestimmt, identisch zu sein mit den objektiven Bedingungen der Reproduktion seines bewusstlosen Fortstrebens. Und in der Verwandlung wird schließlich nur eines geschaffen, nämlich der Ausgangspunkt für die Wiederholung des Ganzen: „Das einzige Geschäft des Schmetterlings ist die Fortpflanzung.“[6]Ebd., 325. Am eindrucksvollsten in Sebalds Beschreibung ist aber das Hin und Her des Kopfes, durch das die Raupe ihren innerlich-äußerlichen Cocon produziert. Erkennbar ist hier die Aufnahme des Motivs der Rastlosigkeit, der Verwirrung im ununterbrochenen Tun und dessen Bewusstlosigkeit. Und es deutet sich dabei der Widerstand an, im nur indirekt merklichen Kopfschütteln der Kreatur.
Sebalds poetische Diagnose der modernen Selbst-Naturalisierung setzt dabei deutliche Akzente auf
die destruktiven Seiten des bürgerlichen Zeitalters. Der Grund dafür liegt aber, wie wir gesehen haben, in der Sache selbst, im Grundmerkmal der Moderne. Was modern ist, ist nur deshalb modern,
weil es sich selbst überholt. Die damit verbundene Verwandlung legt allerdings keine rein formale Bestimmung von Modernität nahe. Als Epochenmerkmal setzt sie vielmehr konkrete Charakteristika des Bewusstseins an, sodass wir von einem Bewusstsein der Moderne sprechen können. Allerdings bildet sich dieses Bewusstsein nicht unabhängig von den destruktiven Aspekten des Grundmerkmals modernen Lebens aus. Sebald thematisiert diese explizit als unbewusste und betont so ihr naturalisiertes Vorkommen. Damit ist gemeint, dass sie dem modernen Bewusstsein nicht als geschichtlich gewordene erscheint, sondern als an sich bestehende Merkmale des Daseins. Solche Natürlichkeit trägt unter Bedingungen der Moderne allerdings ihre eigene Aufhebung in sich. Natur gerät so zur Naturkatastrophe, zum permanenten Umwälzen alles Gegebenen; oder mit anderen Worten: Was es heißt, gegeben zu sein (natürlich zu sein), ist nun nichts anderes als sich selbst umzuwälzen. Unter dieser Annahme ist das Gegebene selbst ein Prozess der Veränderung, und zwar einer Selbst-Überholung, in der gerade nichts als ein an sich und vor allem anderen Gegebenes verharrt.
Deutlich wird das an Kunstformen der Moderne, die in ihrer Radikalität die materiellen Grundlagen des eigenen Daseins bereits im Zustand der Umwälzung begreifen. In dadaistischen Produktionen rücken beispielsweise Buchstaben und Klänge ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Grundlage lyrischer Bedeutung, das gleichsam rohe Klang- und Wortmaterial, tritt anstelle des Wortes als Bedeutungsträger auf – und revoltiert dabei gegen die ursprüngliche Bedeutung der Worte; indem sie durch ihre bloße Materie ersetzt werden, erscheint diese selbst als ein Surrogat von Sinn und Bedeutung. In Hugo Balls Karawane imitieren fantastische Quasi-Wörter den Klang sinnvoller Ausdrücke und erheben so das Material der dichterischen Wirkung, die Assoziation, zum eigentlichen Ausdrucksmittel: „jolifanto bambla o falli bambla/ großiga m’pfa habla horem/egiga goram“.[7]Hugo Ball, „Karawanne,“ [Verse 1-3] Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente (2013): 66. Weiter geht Raoul Hausmann, der in seinem Manifest von der Gesetzmäßigkeit des Lautes den Atem zum Sinn gebenden Material des Sprechens erhebt; dabei vollzieht sein Text selbst die Verwandlung eines plakativen Werbetextes über Tabakprodukte hin zum dadaistischen Klangmanifest: „Was nun die Gesetze des Lautes angeht…../bbbb/N‘ m o u n m‘ o n o u m o n o p o u h/p/o/n/n/e (…)“[8]Raoul Hausmann, „Manifest von der Gesetzmäßigkeit des Lautes,“ Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen (2013): 35. Der Text beginnt mit den instruktiven Worten: „Wenn man, die Lippen teilend, das Rauchen beginnt (…).“[9]Ebd., 33. Das Rauchen kann hier sowohl den Mund verlassen, als auch in ihn eindringen, es markiert daher die doppelte Ausrichtung der Klangmaterie: als nahezu geräuschloses Einsaugen oder als vielfältige Klanglichkeit des Sprechens; sie ist Sinnanspruch und dessen Zurücknahme zugleich. Im Zusammenkommen beider Momente überlagert sich, was das Wort „Rauchen“ bereits im Bild andeutet: ein nebulöses vielfältiges, das gerade in der Abwesenheit von artikuliertem Sinn dessen somit sinnlose Grundlage in den Vordergrund rückt.
Dada macht so die isoliert betrachtete, sinnlose Materie des Sinns selbst zum Prinzip des künstlerischen Ausdrucks. Zentral ist dabei, dass dieser Ausdruck nicht in einer erneuten Formung von Wortmaterial zu festen Bedeutungsträgern besteht. Sie präsentiert vielmehr den scheinbar natürlichen Träger des Sinns – den Klang und die Buchstaben der Sprache – als ein Potential zur Umwälzung desselben. Was beständig und in seiner Verständlichkeit unumstößlich erscheint wird so gerade durch die Form- und Sinn-lose Belebung seiner Grundlagen zerschlagen. Die Programmschriften der Dadaist*innen haben daher performativen Charakter und entziehen sich dem Bedürfnis nach einer positiven Botschaft, der Postulierung neuen Sinnes. Sie zeigen so an, was es heißt, dass Modernität ihre eigenen Grundlagen als sich selbst überholend ins Bewusstsein bringt.
Damit zeichnet sich Modernität durch die Tendenz zur Naturalisierung ihres Grundmerkmals ebenso
aus, wie durch den destruktiven Charakter dieser Naturalisierung. Was die Dada-Produkte anzeigen
ist nicht nur ein Aufstand der natürlichen Grundlagen von Sinn und Ordnung in der Moderne,
sondern auch die Destruktion des Begriffs von Natürlichem selbst. Wenn das Natürliche das schlicht Vorgegebene ist, so zeigt der Einschluss der Selbst-Überholung ins Natürliche, dass dieses nicht länger in sich verharrt, sondern ganz entgegen seinem Begriff alles Vorgegebene abbaut – eben überholt.
Wie kann angesichts einer solchen Diagnose ein Bewusstsein der Moderne aussehen? Reflexion verweist als Bewusstsein von etwas eben auf ein Vorgegebenes, das im Zuge der Reflexion bewusst gemacht werden soll. Die Moderne zu reflektieren muss daher zugleich heißen, sich gegen ihre Form zu behaupten. Diese Form hat sich uns als Selbst-Überholung dargestellt, die selbst das bloß Vorgegebene charakterisiert; der Bezug auf derart Dynamisches erscheint daher selbst problematisch. Das Bewusstsein dieser Grundlagen der Moderne müsste sich daher der inneren, sich selbst-überholenden Bewegung derselben bewusst werden, ohne zugleich mit ihr unterzugehen. Das Gegenbild solchen Bewusstseins ist folgerichtig das bewusstlose, in seine Selbstverwandlung taumelnde Leben der Seidenraupe. Wie reflektiert sich dieses bewusstlose Bewusstsein in der Moderne?
Walter Benjamin erklärt in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte, die Reflexion auf erlebtes Glück führe auf Grund seines Gegenwartsbezuges stets eine Vorstellung von Erlösung mit sich.[10]Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte,“ Walter Benjamin. Sprache und Geschichte. Philosophische Essays (2017): 141 f. Das retrospektiv bedachte Glück vergegenwärtigt nicht nur für sich stehendes Glücklichsein, sondern auch das kontrastierende Unglück der Situation, in der das gewesene Glück nicht mehr anwesend ist; das anwesende Fehlen von Glück schiebt sich so vor das erinnerte Glück wie ein Anspruch auf Wiedergutmachung. Für Benjamin charakterisiert dieses Phänomen Geschichte im Allgemeinen. In dieser Vorstellung von Geschichte liegt ein Aspekt von Benjamins Modernität. Er beschreibt so ein historisches Bewusstsein, das im Vergangenen gerade nicht nur das einmal geschehene und nun in sich ruhende Gewesene sieht: „Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? (…) Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“[11]Ebd., 142. Diese „messianische Kraft“ kommt einem Moment an dem zuvor genannten Bewusstsein gleich, das in der Erinnerung an vergangenes Glück den Wunsch nach der Heilung eben seines Vergangenseins geltend macht. Benjamin weißt so daraufhin, dass in der Reflexion der Vergangenheit zwar ihre Abgeschlossenheit als Ereignis deutlich wird – dass aber ein solches vergangenes Ereignis im Bewusstsein seiner moralischen Geltung auftritt. Dieser Zusammenhang muss genauer erklärt werden.
Modernität zeigte sich als die Umwälzung alles „Ständischen und Stehenden“, die sich in ihre eigenen Grundlagen eingräbt und so jedes Bewusstsein von ihrem eigenen Prozess zu untergraben drohte. Dies zeigt sich besonders daran, dass die destruktiven Momente der modernen Weltauffassung zugleich natürliche Grundlage eben dieser Auffassung zu sein schienen, darin aber eine explizite Thematisierung als solche grundsätzlich unterbanden. Benjamin lenkt unseren Fokus nun auf das notwendige Produkt derart destruktiver Momente: Die Wunden der Geschichte. So wie historische Prozesse unter Bedingungen der Moderne eine stetige Umwälzung ihrer Grundlagen mit sich bringen, so legt die Vergegenwärtigung dieser Umwälzungen den Grundstein eines Bewusstseins der Moderne. Benjamin schreibt dazu: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt.“[12]Ebd., 144. Diese Gefahr ist für Benjamin für alle Generationen grundsätzlich dieselbe, nämlich selbst zu Verlierern der Geschichte zu werden und so in die Geschichtsschreibung der Sieger einzugehen. Dem gegenüber steht die Bemächtigung der Erinnerung. Sie meint eine Herauslösung des historischen Ereignisses aus der offiziellen Geschichtserzählung, um so dem historischen Subjekt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Es gibt somit etwas, das in der Moderne trotz ihres sich selbst überholenden Charakters zurück
bleibt, ja sogar zurück bleiben muss: Es entspricht in etwa dem leeren Cocon von Sebalds Seidenraupen, der aus gutem Grund nur im Zustand seines Prozesses Eingang ins Bild gefunden hat: Der Cocon als Hülle, als Abfall der Verwandlung, trägt zu keiner Überholung mehr bei. Die einzige Möglichkeit, dennoch eine Rolle in diesem Prozess zu spielen, besteht für ihn darin, als Naturprodukt Dünger oder Nahrung zu werden, um die Selbst-Prozessierung des Lebens voran zu treiben. Als solche kommt er aber gerade nicht als leerer Cocon vor, sondern in einer neuen Funktion, die sich ausschließlich am Prozess orientiert. Diesen Prozess begreift Benjamin als einen Sturm: „Der Engel der Geschichte (…) hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. (…) Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“[13]Ebd., 146.
Der Fortschritt, der bei Benjamin die Geschichte wie ein Sturm durchweht, ist ebenso wie die moderne Selbst-Überholung ein umfassender Prozess, dem scheinbar nicht beizukommen ist. Doch die Perspektive des Engels unterscheidet sich hier deutlich von unserer: Im Gegensatz zu uns sieht er keine einzelnen Ereignisse, sondern einen Zusammenhang. Es ist diese Wendung zum historischen Zusammenhang, die ein Bewusstsein der Moderne möglich macht. Im Blick auf das Ganze der Selbst-Überholung wird deutlich, dass sie eben nicht das Ganze ist. Sie wirft beständig die „Trümmer“ ab, die sich vor dem Blick des Engels aufhäufen. So wie der leere Cocon können sie im Prozess nur selbst als verwandelte vorkommen, nicht aber so, wie sie im historischen Moment ihres Entstehens beschaffen sind. Der leere Cocon der Seidenraupe ist im Moment seines Entstehens kein Dünger oder Nahrungsmittel. Er ist ein schlichtes, wertlos gewordenes Abfallprodukt. Wie überträgt sich das auf die menschliche Geschichte? Was sind Einzelschicksale im Moment eines Verlustes oder eines unerwarteten Glücksfalls? Für den historischen Prozess als Gesamtzusammenhang sind sie Momente einer Verwandlung, die nur in der Produktion ihrer eigenen Selbst-Überholung besteht. Als Erinnerungen tragen sie aber das Potential der Vergegenwärtigung in sich, auf das Benjamins „messianische Kraft“ reagiert. In der Reflexion auf den historischen Zusammenhang der Moderne, ihrer Prozess-haften Auffassung des scheinbar Natürlichen, wird so kenntlich, dass sie in dem Moment, in dem sie ein Ganzes vorstellig machen möchte, gerade dazu nicht in der Lage ist. Was folgt daraus für das Bewusstsein der Moderne? In erster Linie zeigt sich, dass es eine negative Bestimmung enthalten muss. Es reflektiert die Welt als eine sich selbst überholende. Doch gerade darin weiß es sich als nicht hinreichend an diese Welt. Das Bewusstsein der Moderne geht auf diese Brüche ein, zeigt, dass sie notwendigerweise Brüche sind, weil sie gerade nicht im Grundmerkmal moderner Weltauffassung vorkommen und sich dennoch historisch wieder und wieder zeigen. Das Bewusstsein der Moderne ist so „ein Verfahren der Einfühlung.“[14]Ebd., 144.

Referenzen

Referenzen
1 Robert Spaemann, „Ende der Modernität?,“ Robert Spaemann: „Philosophische Essays“ (2005): 23.
2 Ebd., 232 f.
3 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (Stuttgart: Reclam, 2005), 23.
4 W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn (Frankfurt/Main: Fischer, 2015), 350.
5 Ebd., 326.
6 Ebd., 325.
7 Hugo Ball, „Karawanne,“ [Verse 1-3] Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente (2013): 66.
8 Raoul Hausmann, „Manifest von der Gesetzmäßigkeit des Lautes,“ Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen (2013): 35.
9 Ebd., 33.
10 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte,“ Walter Benjamin. Sprache und Geschichte. Philosophische Essays (2017): 141 f.
11 Ebd., 142.
12, 14 Ebd., 144.
13 Ebd., 146.

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