Stammtischgerede
Will man sich einen „typischen“ Stammtisch vor Augen führen, dann denkt man meist an ein traditionelles Lokal im ländlichen Raum, in welchem sich ein Gruppe von meist älteren Herren beim mindestens dritten Bier befindet, entweder ins Kartenspiel vertieft oder die neuesten Geschehnisse mitsamt Wertung derselben austauschend. Die am Tisch vertretenen Meinungen sind – den Anwesenden entsprechend – etwas rückständig und konservativ, paternalistisch. Vielleicht fällt sogar der ein oder andere Satz, den man sonst nur vom politisch rechten Rand erwarten würde. Auf jeden Fall fallen Sätze, die sehr pauschal sind. Der Ort für Kontroversen und gut argumentierte, auf Sachlichkeit bedachte Dispute ist nicht derjenige, für den der Stammtisch geschaffen ist. Wo Argumente möglich wären, besteht kein Bedarf an ihnen – am Stammtisch sind alle ungefähr gleichgesinnt, wer anders tickt, nimmt nicht teil. So reproduzieren sich die vorgebrachten Ansichten, einseitige Perspektiven werden unter kopfnickender, raunender Zustimmung gedroschen.
So oder ähnlich mag es einem im Hinterkopf herumschwirren, wenn man sich über eine mal wieder besonders plump vorgetragene Ansicht ärgert, die in der Zeitung steht, ein Nachbar mit unübertreffbarer Selbstsicherheit herausposaunt oder in der Politik vertreten wird. Wieder mal wird alles über einen Kamm geschoren, mit Kanonen auf Spatzen geschossen und dann die einzig wahre Lösung als frohe Botschaft präsentiert, als ob es nur schwarz und weiß, nur richtig und falsch gäbe. Und das ist der Moment, in welchem es uns hinreißt zu sagen: „Das ist doch nur Stammtischgerede.“.
Diese Metapher fußt wohl auf einem Verständnis des Stammtischs, wie er oben beschrieben wurde. Natürlich, und das würde niemand bestreiten, gibt es nicht nur den provinziellen Stammtisch mit älteren Menschen, die, so könnte man denken, nur deshalb so genau wissen, wie die Welt zu sein hat, weil sie nie eine andere erlebt haben. Auch der städtische Tango-Verein kann einen Stammtisch veranstalten, genauso wie die Adorno-Lektüregruppe oder auch die Mitglieder eines Improvisationstheaters. Wahrscheinlich wird bei ihnen nicht Schafkopf gespielt oder der nahende Untergang des Abendlandes beschworen, doch teilen diese „Stammtische“ den wichtigsten Aspekt des typisierten Provinz-Stammtischs: Auch hier ist der Stammtisch ein Ort des ungezwungenen Miteinanders, an welchem man froh ist, voreingenommen sein zu dürfen. Hier kann man unter seinesgleichen weilen, ohne das eigene Weltbild ständig auf den Prüfstand stellen und den eigenen Standpunkt in sachlicher Diskussion rechtfertigen zu müssen. Am Stammtisch muss man sich nicht auf das „andere“ einlassen. Es tut gut, Zeit mit Menschen zu verbringen, die alle den gemeinsamen Nenner haben, denn wenn es Diskussionen gibt, so ist dieser gleich gefunden, ohne erst einmal von der eigenen Grundüberzeugung abstrahieren zu müssen.
So gesehen erfüllt der Stammtisch eine wichtige Funktion in der Gesellschaft: Er gibt weltanschaulichen Halt, ein Gefühl des Miteinanders und der Ähnlichkeit. Es ist nichts daran auszusetzen, nicht in jeder Sekunde des Lebens einen perfekten Diskurs zu führen, in welchem dem anderen, fremden genauso viel Raum zugestanden werden muss wie dem eigenen.
Doch die grundsätzliche Legitimation des Stammtischs mit all seiner voreingenommenen Oberflächlichkeit rechtfertigt es nicht, in gesellschaftlichen Bereichen „Stammtisch“-Parolen zum Besten zu geben, wo diese nichts zu suchen haben. Unsere Gesellschaft lebt von aufeinanderprallenden Weltanschauungen, unterschiedlichen Wertungen und Lösungsansätzen. Dort, wo es darum geht, den besten Weg für das Gemeinwohl zu finden, sollten sachliche Argumente und Diskurse das Mittel der Wahl bleiben. Wenn wir nun ärgerlich „Das ist doch Stammtischgerede“ sagen, könnten wir damit meinen, dass eine solch unreflektierte und undifferenzierte Aussage im Rahmen einer ernsthaften Diskussion nicht angemessen ist.
Jedoch drückt dieser Spruch meist nicht nur eine formale Wertung aus, sondern ebenso eine inhaltliche. Nicht jede Aussage, die es sich ein bisschen zu einfach macht, wird abwertend als Stammtischgerede qualifiziert. Vielmehr wird „Stammtisch“ oft zum Kampfbegriff, der eine bestimmte politische Richtung disqualifizieren soll. Der „typische“ Stammtisch tritt damit wieder in den Vordergrund; wer den Kampfbegriff benutzt, hat den provinziellen, biersüffigen Altmännertreff im Kopf, der als Abwertungsschablone dient.
Hier beginnt ein Argument ad hominem. Es geht nicht mehr nur darum, auszudrücken, dass eine Aussage einen zu undifferenzierten Charakter hat, welcher im Rahmen einer gesellschaftlichen Diskussion nichts verloren hat. Es geht darum, eine bestimmte Gruppe ins Lächerliche zu ziehen, ihr grundsätzlich das Vermögen, sich eine fundierte Meinung zu bilden, abzusprechen. Wer Stammtisch auf diese Art als Kampfbegriff verwendet, läuft Gefahr, selbst das zu tun, was er vordergründig kritisieren möchte: Pauschal und undifferenziert zu urteilen.