Stadtgeflüster

In der Stadt, dem modernen Ungetüm, bekommt man sozusagen alles mit…und am Ende auch nichts. Unzählige Leben überschneiden sich Tag ein, Tag aus in den Straßen, gesäumt von grauem Beton und meist bekommt man nicht mehr als nur einen kleinen Gesprächsfetzen mit.
Dieser hinterlässt nur einen spekulativen Eindruck des Lebens der anderen.
Zurück bleibt lediglich ein Nadelöhr großes Fenster in das Leben der anderen Stadtmenschen, so klein, dass es eigentlich nur in den Köpfen der vorbeigehenden Menschen existiert und sofort mit dem Wind wieder fortgetragen wird.

 

 

„Sie schläft nicht
Sie schreit neben dem Ohr laut und ohne ruh
Und trotzdem hört man ihr nur selten wirklich zu.
Tausende Leben, tausende Worte, tausende Geschichten.
Was interessiert mich das, ich hab mein eigenes Leben!
Es fehlt nämlich die Erklärung hinter all den Gedanken,
aus den Köpfen der anderen Menschen
und weiterhin wartet man vergeblich auf die vollkommene Einsicht,
welche hoffentlich die Unruhe beschwichtigen wird“

 

 

 

Vor der AdBK

ein klapperndes Fahrrad im Hintergrund, Autos auf Kopfsteinpflaster

„…geh ma in die Sonne“

„grias eich“

„Unterhaltung auf spanisch“

„Hast du nur die Hälfte davon?“

„Vielleicht kommt Marie ja noch vorbei“

„ist das hier jetzt aufgelöst?“

Café in der Schellingstraße
Blick auf die Haltestelle, abfahrende Busse, wartende Menschen, quietschende Reifen

„Wann denn? Keine Ahnung“

„I was here last time…”

“Holst du noch dein Dings Bums da raus?“

„Wenn man deinen Lebenslauf sieht…“

Vor meiner Haustür
Kinder spielen im Hintergrund

„Nur noch 30 Minuten“
„Nein“
„Echt nur ne halbe Stunde“
„Ich hab nein gesagt!“

Café
Straßenlärm, vorbeifahrende Autos, leise Geräusche aus dem Café (klirren der Tassen, Gespräche, gedämpfte Musik im Hintergrund)

„…13 im Kurs und alle hatten 1,0“

„Ich glaub‘, Bibliotheken sind auch echt nichts Tolles…“

„Ich bin halt auch so der Typ…“

„Vielleicht bewerte ich die alle mal schlecht…vielleicht sollte ich das echt mal machen“

„…dann war ich im Auswärtsblock, das war mega cool!“

„Sie hat die ganze Zeit hin und her überlegt und nie was gefunden“

Ältere Dame am Ostbahnhof:

“Scheiß Deutschland… die Demokraten ziehen sich zurück… Hat die Merkel Brustkrebs? … ständig wird man belauscht… Meiner Freundin wurde die Kleidung geklaut…” Darauf ein älteres Ehepaar: “Können Sie ein bisschen leiser reden?”

Junges Paar in Giesing:

Sie (offensichtlich Juristin): “Ich habe ‘Schwereklausel’ gesagt.” Er: “Oh. Ich habe schwere Klausur verstanden.”

Ich sitze im Billy’s Café an der Philosophiebibliothek.

Ein älterer Deutscher spricht mich an, angeregt von einem Buch von mir redet er über das Philosophiestudium:
“Ein anderer junger Mann hat mir erzählt, er sei vom siebten ins zweite Semester zurückgestuft worden, damit er länger studieren kann. So hab ichs jedenfalls verstanden!”
Ich: „Mhmh, Studieren ist hart.“
Er aber weiß gut Bescheid, betreibt eine Weile Name-dropping und große Geschichtsphilosophie, spricht schließlich von der Athener Demokratie:
“Aber die Frauen durften da natürlich nicht wählen. So war es in der Geschichte. Irgendwie haben immer die Frauen und die Juden auf die Mütze bekommen.”
Ist er etwa Feminist, frage ich mich.
“Aber die Juden ja nicht ganz zu Unrecht.” fährt er fort.
Aha. Er redet über anderes weiter, aber ich bin neugierig:
„Was meinten Sie von den Juden? Das interessiert mich.“
Er: “Naja, die haben ja den Jesus ans Kreuz genagelt.”
Moment, waren das nicht die Römer?
Er hat eine ganze Theorie in petto: Nein, die Römer hätten ja ganz andere Kreuze gehabt, er spricht vom Antonius Kreuz, vom Andreaskreuz, macht wilde kreuzende Handbewegungen, ich bin schwer beeindruckt. Ja, das Christuskreuz, das sei gar nicht üblich gewesen:
“Selbst da lügt die Religion!” ruft er begeistert.
Ein Aufklärer ist er also! Ein Querdenker! Dass die Juden am Holocaust nicht unschuldig seien, leitet er gekonnt aus den Kreuzen seiner Phantasie ab. Als Antisemit denkt er widerstandslos, er kennt alle Namen und historischen Ereignisse so genau, weil er nicht mehr denken kann.
Verdummter Verstand und Logik sagen ihm: nihil fit sine causa, nichts geschieht ohne Grund, und bei Gewalt heißt das, sie sei immer Gegengewalt, Rache:
“Nicht ganz zu Unrecht” spricht der rationalisierte Wahn, der sofort Identität stiftet mit den Tätern, der so schnell und konsequent unbewusstes Einverständnis mit den Mördern produziert, dass es umso größeren Geschwätzes bedarf, ihn nicht offen auszusprechen, sondern in Geschichten von Kreuzen irrational zu rationalisieren.

Im Zug von München nach Berlin sitze ich mit einem älteren Ehepaar an einem Vierer-Platz.
Gegenüber von uns sitzt eine junge Frau, die ihre Beine bequem an den Körper gezogen hat. Zu viel Bequemlichkeit für das Ehepaar.
Der Mann flüstert: “Hat die die Füße auf dem Sitz. Elendes Volk. Sowas hat es früher nicht gegeben. Da wäre die längst weg.”
Dabei schnalzt er sonderbar mit der Zunge. Seine Frau stimmt nur empört zu, beide starren immer wieder auf die andere Seite.
“Elendes Volk.”
Was das Schnalzen zu bedeuten hat, entzieht sich mir jeder Erkenntnis. Vielleicht ein Tic, welcher der Kommunikation dient.

Amalienstraße

Vater zu Sohn: “Natürlich war das ein Scherz, ich sperre dich nicht in den Keller!”

Auf der Straße

Mädchen zu einem Freund, über ihren boyfriend oder zu ihrem boyfriend, so oder so, good guys finish last:
“Er ist der süßeste Kerl auf Erden, er tut wirklich alles für mich. Aber weißt du, irgendwann nervt das.”

In der S-Bahn

Eine alte Verrückte brüllt mehrfach zu den Fahrgästen:
„Ich bring euch alle vor Gericht!“
Notiz: Man beachte, wie zivilisiert ihre Drohung ist. Statt den Mordwunsch auszusprechen, pocht sie auf die Vermittlung von Gewalt durch mühselige und langweilige Prozesse und Verfahren und schützt unbewusst sich selbst so vor einer Anzeige.

Nach der Vorlesung

„Ich will aber nicht zum Chinesen, ich will lieber ’n Schnitzel!“

Im Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße
Gebrüll, Geschrei und Gefluche während des Spiels der Münchner Löwen

„Bitte keine Politik! … AUF GEHT’S JAAAAA!!!“

Abend, hinter der Münchner Freiheit

In tiefstem Bairisch: „Das einzige, was richtig gegen Heuschnupfen hilft, ist rauchen!“

Im Kino
Filmfest München, vor Beginn eines im Nachhinein äußerst zweifelhaften Films

„Du hättest bestimmt süß geholt. Ich bin voll der salzige Typ.“

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