Otto Neurath
Über einen politisch engagierten Philosophen
Otto Neurath (1882-1945) ist vielen als einer der Philosophen des berühmten Wiener Kreises bekannt (Nemeth 1981; Cartwright, Cat, Fleck und Uebel 1996; Stadler 1997; Sandner 2014; Siegetsleitner 2014). Neuraths Philosophie soll hier jedoch keine zentrale Rolle spielen, sondern sein politisches Engagement im München der Räterepubliken, wo er von 1918 bis 1920 tätig war, und im Roten Wien, dem von 1919 bis 1934 sozialdemokratisch regierten Wien.
Es lohnt sich allerdings, zwei Punkte aus Neuraths Philosophie herauszugreifen, um sein politisches Engagement besser zu verstehen. Als Philosoph hat sich Neurath intensiv mit den Sozial- und Naturwissenschaften auseinandergesetzt. Zwei wissenschaftsphilosophische Thesen waren für ihn besonders zentral (Nemeth 1981; Siegetsleitner 2014: Kapitel 7). Erstens ist Neurath der Überzeugung, dass Wissenschaft ein demokratisierendes und antiautoritäres Element in sich trägt, weil wissenschaftliche Hypothesen von verschiedenen Leuten (unabhängig von deren Klasse, Geschlecht, Nationalität usw.) durch Erfahrung geprüft werden können. Zweitens verteidigte Neurath den Standpunkt, wissenschaftliches Wissen solle für alle Menschen in einer Gesellschaft frei zugänglich sein und auch so vermittelt werden, dass es allen verständlich ist. Sein Hauptgrund: wissenschaftliches Wissen ist ein wertvolles Mittel zur Selbstermächtigung und zur Verbesserung der Lebensqualität benachteiligter sozialer Gruppen (u.a. Arbeiter*innen und Frauen).
Ich werde drei von Neuraths politischen Tätigkeitsbereichen herausgreifen und näher betrachten: Bildung und Wissenschaftskommunikation für Arbeiter*innen (Abschnitt 1), Genossenschaften und sozialer Wohnungsbau (Abschnitt 2) und sein Engagement als antifaschistischer Intellektueller (Abschnitt 3). Anschließend werde ich die Frage aufwerfen, in welcher Hinsicht Neurath heute eine Vorbildfunktion zukommen kann (Abschnitt 4).
1. Bildung und Wissenschaft für alle
Wie bereits gesagt, war Neurath der Überzeugung, Bildung und Wissenschaft sollen für alle zugänglich sein. Ein politisches Hauptprojekt seines Lebens bestand darin, die Verbreitung von Wissenschaft, und damit einhergehend eine Kompensation von ungleichen Bildungschancen, in die Tat umzusetzen (Hegselmann 1979: 47-52; Cartwright u.a. 1996: 56-88; Stadler 1997: Kapitel 12; Taschwer 2002: Kapitel 10; Sandner 2014: 176-194).
Neurath hat dieses Projekt im Roten Wien durch verschiedene Strategien realisiert. Neurath hat sich als Organisator und als Lehrender mit zahlreichen Vorträgen an den Schulen und Volkshochschulen in Wien (wie z.B. im Volksheim Ottakring und der Wiener Urania) und im „Verein Ernst Mach“ (der außeruniversitären Outreach- und Bildungsplattform des erwähnten Wiener Kreises) betätigt. Zudem gründete er das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums der Gemeinde Wien und fungierte als dessen Direktor. Sinn und Zweck dieses Museums war es, medizinische, soziologische, wirtschaftswissenschaftliche und städtebauliche Informationen allgemeinverständlich zu vermitteln, u.a. viele statistische Informationen.
Eigens für diese Wissensvermittlung hat Neurath in Zusammenarbeit mit Gerd Arntz und Marie Reidemeister eine innovative Darstellungsmethode entwickelt: die „Wiener Methode der Bildstatistik“. Statistische Informationen aus den Wissenschaften (z.B. über den Zusammenhang zwischen Klassenzugehörigkeit und Säuglingssterblichkeit in Wien) wurden durch reduzierte bildliche Darstellungen allgemeinverständlich aufbereitet. „Worte trennen – Bilder verbinden“, so Neuraths Slogan (Sandner 2014: 192). In seinem späteren Lebensabschnitt im britischen Exil erweiterte Neurath seine Methode zur sog. „ISOTYPE“ (International System of Typographic Picture Education), die auch filmische Darstellungselemente einschloss. Neurath trug diese innovative Darstellungsmethode aktiv und erfolgreich in die Wiener Kommunalpolitik hinein.
2. Mehr Lebensqualität durch Wohnungsbau
Neurath glaubte jedoch keineswegs, dass eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Wiener Arbeiter*innen sich in Bildungsprojekten erschöpfen würde. Viele soziale Missstände in Wien nach dem ersten Weltkrieg waren auf katastrophale Wohnverhältnisse – auf knappen und verelendeten Wohnraum – zurückzuführen. Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse bedeutete für Neurath, ein neues Wohnen für alle zu ermöglichen – unabhängig vom Einkommen.
Neurath engagierte sich in verschiedenen wohnungsbaupolitischen Projekten des Roten Wiens. Zunächst war er an der sog. „Siedler- und Kleingärtnerbewegung“ beteiligt, die als eine Bewegung von Kleingartenbesetzungen und Wildcampen begann, sich zu einem Bauprojekt von Genossenschaftssiedlungen weiterentwickelte und schließlich in das Großprojekt des Wiener Gemeindewohnungsbauprogramms mündete. Letzteres ist für seine mehrgeschossigen Großwohnanlagen berühmt geworden, die das Wiener Stadtbild bis heute prägen und vielen Arbeiter*innen tatsächlich mit großem Erfolg ein günstiges Wohnen mit einem bis dahin unerreichten Komfort bieten konnte und bis heute bietet (Sandner 2014: 164-176, 195-203).
Neurath nahm die Rolle eines Netzwerkers ein. Er war in verschiedenen Ämtern und Funktionen aktiv, die administrative Aufgaben in Organisationen und Gremien, Ausstellungen zum Wohnungsbau und journalistische Öffentlichkeitsarbeit einschlossen. Neurath war auch dazu in der Lage, namhafte Architekten (wie z.B. Alfred Loos) für das umfangreiche Wiener Wohnungsbauprojekt zu gewinnen. Zudem gelang es Neurath, einen intensiven Austausch über Design, Architektur und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse einzuleiten – u.a. mit Mitgliedern des Dessauer Bauhauses (Galison 1995: 656-664).
3. Mit guten Argumenten gegen Nazis
Neurath hat wiederholt die Rolle des antifaschistischen Intellektuellen eingenommen, indem er sich in Zeitungsartikeln und in Buchpublikationen gegen rechte und nationalsozialistische Intellektuelle kritisch zu Wort gemeldet hat (siehe auch Galison 1995: 675-679).
Das prominenteste Beispiel für Neuraths politisches Engagement als antifaschistischer Intellektueller stellt seine Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes dar (Neurath 1920, 1921; Sandner 2014: 153-155). Darin diagnostiziert Spengler den Verfall der „abendländischen“ Kultur, den Spengler an Symptomen wie Internationalismus, Demokratie, Menschenrechten usw. in Europa festmacht und diese Verfallsthese durch historische Analogien zu stützen versucht. Spenglers Bestseller kam eine vergleichbare, die Rechte befeuernde Rolle zu wie beispielsweise die Bücher von Thilo Sarrazin in der heutigen öffentlichen Debatte in der Bundesrepublik. Neurath hatte sich also einen würdigen Gegner ausgesucht.
Schaut man sich diese Auseinandersetzung an, so fällt vor allem der Tonfall und Stil auf, den Neurath pflegt. Neurath legt eine unaufgeregte aber völlig unnachgiebige Art der Argumentation gegen rechte “Denker” wie Spengler an den Tag. Er richtet folgende Kritik gegen Spenglers Buch: Spenglers Ausführungen sind einfach zu spekulativ, als dass man mit Ihnen etwas anfangen könnte. D.h. sie sind nicht gut belegt und es ist oft nicht klar, wie man sie durch Erfahrung oder durch historische Quellen nachprüfen könnte. Mit anderen Worten: Spenglers Buch stellt kein wissenschaftliches Wissen zur Verfügung, obwohl es diesen Eindruck erwecken will. Neurath argumentiert weiter: Wenn Spenglers Thesen sich nicht im Bereich des Spekulativen bewegen, sind sie oft kaum haltbar, weil viel gegen sie spricht. Denn sie vertragen sich äußerst schlecht mit dem verfügbaren historischen und sozialwissenschaftlichen Wissen seiner Zeit. Neurath moniert, Spengler nehme die für dessen Thesen relevante historische und sozialwissenschaftliche Forschung nicht zur Kenntnis. Neurath vertraute darauf, so scheint es jedenfalls, dass Kritikpunkte dieser Art von allen – auch über politische Grenzen hinweg – nachvollzogen werden können.
4. Politisch engagierte Philosoph*innen
Was können wir heute von Otto Neurath lernen? Für wen könnte er denn ein Vorbild sein? Neurath ist allgemein ein Beispiel für Eigeninitiative im politischen Engagement. Aber Neuraths Leben ist auch ein spezifisches Beispiel für einen politisch engagierten Philosophen. Sein politisches Engagement wirft Fragen für uns auf: Wie sollten sich Philosoph*innen auf der Grundlage der eigenen Expertise politisch engagieren? Was genau können Philosoph*innen heute zur Lösung der drängenden politischen Probleme beitragen (z.B. zu ökonomischer Ungleichheit, steigenden Mieten und sozialem Wohnungsbau, Klimawandel, Rechtsradikalismus und -populismus, Wissenschaftsskeptizismus etc.)? Und nicht zuletzt: Wie sollten Philosoph*innen heute mit rechten Intellektuellen und rechten Philosoph*innen umgehen, die versuchen, sich an deutschen Universitäten Gehör zu verschaffen? Diese Fragen haben Neurath vor 100 Jahren beschäftigt und sie gehen auch uns heute etwas an.
Alexander Reutlinger, Dr. phil. habil., arbeitet als Akademischer Rat an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht und lehrt im Bereich Wissenschaftsphilosophie.