Interview mit Bernhard Gill

Cogito: Sie haben jüngst zu Gesellschaftsbildern und Naturvorstellungen in der Corona-Krise veröffentlicht: Was bedeuten diese beiden Begriffe und wie haben Sie sie definiert?

Bernhard Gill: Gesellschaftsbilder sind nach der Cultural Theory dahingehend geprägt, dass es eher kollektivistische Vorstellungen gibt oder eher individualistische Vorstellungen, bei den Personen und dann auch in entsprechenden Institutionen. Also eine Gesellschaft kann stärker kollektivistisch oder individualistisch verfasst sein. Für moderne, individualistische Gesellschaften würde man sagen, sie sind liberal und sind eine Marktkonkurrenz-orientierte Gesellschaft. Kollektivistische Gesellschaften sind auf irgendeine Art staatsorientiert, eher auf Befehl bzw. auf Kooperation ausgerichtet. Das sind einmal entgegengesetzt die beiden idealtypischen Gesellschaftsbilder.

Die Naturvorstellungen habe ich persönlich etwas von der Cultural Theory abgelöst und in der Operationalisierung vereinfacht. Die Grid-Dimension war in der Cultural Theory immer ein wenig umstritten. Was Mary Douglas in ihren verschiedenen Veröffentlichungen hier gemeint hat, ist mir nicht wirklich klar geworden. Wahrscheinlich ist das nur zu verstehen, wenn man die sehr exotischen ethnologischen Settings kennt, die sie damals beforscht hat. Auf moderne Gesellschaften bezogen habe ich das so vereinfacht, dass es die Vorstellung gibt, dass die Natur grundsätzlich gut ist und es insofern sinnvoll ist, sich naturnah zu verhalten. Oder eben gefährlich, und wir daher die Natur mit allen zu Gebote stehenden Technologien beherrschen und verdrängen sollten. Dabei muss jedoch mitgedacht werden, dass wir als homo faber und homo sapiens uns schon immer in gewisser Weise über die Natur erheben, wir wenden immer schon Technik an.

Welche Rolle spielt dabei das Vertrauen in die Technik?

Aber das Vertrauen in unsere Technik kann man unterschiedlich ausbuchstabieren. Naturnahe Vorstellung: Ja, wir können etwas machen, müssen aber sehen, dass die Natur letztlich übermächtig ist und es daher am günstigsten ist, die Natur zu erforschen, um naturnahen Wegen zu folgen. In einer gegenteiligen Haltung existiert ein großes Technikvertrauen und entsprechend auch ein großes Vertrauen auf unsere Fähigkeit, zu wissen und zu erkennen und die Welt eben nach unseren Maßstäben kontrollieren zu können.

Ich habe das damals in meiner Habilitationsschrift auf gängige Konflikte wie die Gentechnik oder die Atomdebatte angewandt. Die „alten“ Grünen haben immer gesagt, das wollen wir nicht, weil es Technologien sind, die man nicht beherrschen kann und deren Nebenfolgen man nicht übersehen kann. Dasselbe galt für die Flut an Chemikalien, die im Zuge der Expansion der chemischen Industrie entstanden sind: Es gibt hunderttausend registrierte Stoffe und Millionen von Abbauprodukten; von diesen Stoffen sind nur ein paar Hundert charakterisiert. Insoweit gibt es eine Explosion an Nichtwissen hinsichtlich möglicher Folgen wie Krankheiten. Ein Verzicht auf zum Beispiel Atomkraftwerke, wie es sich heute teilweise nach entsprechenden Ereignissen auch durchgesetzt hat, wäre als naturnahe Sichtweise zu definieren. Die „neuen“ Grünen wollen aber zum Beispiel den Verzicht auf Gentechnik revidieren, nachdem die Wissenschaft gesagt hat, dass diese ungefährlich sei.

Die „neuen“ Grünen folgen eher einer „technikeuphorischen“ Sichtweise, welche historisch wellenförmig auftritt und sich verschieden stark ausgeprägt. Beispielsweise gab es Hochphasen wie zur Zeit der Weltraumforschung. Als man dann auf dem Mond ankam, war man ziemlich ernüchtert, wie leer der Mond und wie sinnlos das ganze Unterfangen doch ist. Erstmal war es aber ein großer Beweis, was man Tolles machen kann. Man hat im Zuge der Industrialisierung zum Beispiel Infektionskrankheiten zurück gedrängt, städtische Kanalisation ausgebaut und in Europa den Hunger besiegt. Hier hat man aus Anfangserfolgen den Trend eines ewigen Fortschritts extrapoliert, was gerade in den 1960er Jahren extreme Züge annahm. In den 1970er Jahren kam dann der Bruch, mit der Ölkrise und den Studien des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“. Die Stimmung war dann plötzlich eine ganz andere: Auf einmal hat man davor Alltägliches – wie die Vergiftung der Flüsse – nicht mehr hingenommen.

Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Corona-Krise. Welche Querverbindungen lassen sich in diesem Zusammenhang herstellen?

Ich habe den Eindruck, dass im Moment in der öffentlichen Berichterstattung vielfach ein Kriegsjargon herrscht. Das ist ein Kämpfen gegen die Natur, diese Form der Kriegspropaganda kennen wir von Robert Koch Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts. Es geht dann um die „Ausrottung von Bazillen“. Der Bazillus ist der Feind, der uns töten will. Daher müssen wir die Bazillen töten. Einige Skeptiker wie Hendrik Streeck haben in der gegenwärtigen Debatte eine differenziertere Sicht auf das, was eigentlich Viren sind: Diese gibt es schon immer, die Entstehung des Lebens ist mit der Entstehung der Viren verschlungen. Dieser Vorstellung zufolge sind Viren im Allgemeinen nicht besonders gefährlich, weil sie vom Immunsystem kontrolliert werden können. Wir sollten also nicht unbedingt auf eine Impfung warten, das heißt auf Technik vertrauen, sondern auf die Natur unserer Immunsysteme. Im Übrigen ist der Tod, wenn er im Alter eintritt, letztlich auch eine Naturerscheinung und als solche hinzunehmen.

In der Corona-Debatte findet aber nicht nur eine Auseinandersetzung um Naturbilder, sondern auch um Gesellschaftskonzepte statt. Autoritäre Gesellschaften wie China können relativ leicht strikte Quarantänebestimmungen durchsetzen. Liberale Gesellschaften wie die USA tun sich hingegen schwer damit, die Handlungsfreiheit ihrer Bürger entsprechend einzuschränken. Die Corona-Bekämpfung in Deutschland erinnert mit ihrer Aussetzung der Grundrechte an Kriegsrecht, sie nimmt sehr autoritäre Züge an.

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Artikel?

Ich hatte eine freundliche und angeregte Diskussion mit einer Freundin aus einer anderen Fachdisziplin, die dem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus der Cultural Theory zugeneigt ist. Die Veröffentlichung ist aber in einem Sammelband erschienen, in der die meisten Kollegen ziemlich unkritisch darüber schreiben, inwiefern Corona die ökologische Wende hervorrufen könne. Hier wurde von Pop-up-Radwegen auf die post-fossile und sonst wie ökologisch-werdende Gesellschaft extrapoliert. Das halte ich für verblasene Träume, die im Home-Office entstehen. Das glaube ich nicht: Zugeständnisse würden bei einer Normalisierung sofort wieder zurückgenommen werden. Die Redaktion, Mitglieder Grüner Parteien, hatten schwerstes Bauchweh bei der Veröffentlichung. Dass mein Beitrag die derzeit gängige Selbstverständlichkeit der Leitmedien in Frage stellt, hat sie sehr entsetzt; wohl auch, dass ich ihnen als Grüne vorwerfe, ein technikgläubiges und daher eigentlich „nicht-grünes“ Naturbild zu vertreten.

Das Thema unserer Ausgabe ist Natur: Sie haben sich zum Thema „Streitfall Natur“ habilitiert. Ganz platt gefragt: Warum ist die Natur ein Streitfall?

Der Streit um die Natur hat den Ursprung im Industriezeitalter Um es etwas vereinfacht zu sagen: Bis in die frühe Neuzeit war die Natur übermächtig und die Menschen sind sich bewusst, dass sie die Gaben aus der Natur empfangen. Die damals vorherrschende bäuerliche Gesellschaft war auf die Freigiebigkeit der Natur angewiesen, wusste aber auch um unschöne Naturerscheinungen wie Hagel, Sturm oder Ungeziefer. Für die Bauern war die Natur somit kein Streitfall, sondern alltägliche Selbstverständlichkeit.

Die Natur wird seit Beginn des Industriezeitalters und explizit durch die Romantik in neuer Weise wahrgenommen. Die Romantik ist eine Reaktion auf das Industriezeitalter, in dem es den Menschen gelungen ist, ihre Macht über die Natur durch z.B. Erschließung der fossilen Energiequellen extrem zu steigern und im Sinne der Aufklärung eine Fortschrittsperspektive zu entfalten, die damals sehr euphorisch gesehen wurde. Es herrschte die Vorstellung, dass man – insbesondere durch Wissenschaft – alle Probleme, die man bis dato mit der Natur hatte, besiegen kann. Zu dieser Perspektive entstehen zwei Gegenbewegungen, die ich versucht habe, zu differenzieren:
1. Konservative Gegenbewegung: Sie ist identitätsorientiert, auf den Heimatbegriff fokussiert und möchte am Althergebrachten festhalten.

2. Romantische Gegenbewegung: Sie ist alteritätsorientiert, indem sie über das Bestehende und Vertraute sehnsüchtig hinausgreifen will – nicht jedoch im Sinne weitergehender Beherrschung, sondern im Sinne von Abenteuer und Konfrontation mit bisher unbekannten Welten. Das Motiv findet sich heute beispielsweise sehr breit kommerzialisiert im Tourismus und der damit verbundenen Werbung. Es hat die – damals aufgekommene – Naturbegeisterung der Städter in einem hohen Maße geprägt. Ein Beispiel dafür ist die Entdeckung der Berge: Für Goethe waren die Alpen noch „hässliche Warzen im Antlitz der Erde“; es sei schrecklich, dass in dieser unwirtlichen Gegend überhaupt Menschen leben müssten. Das ist noch das alte bukolische Naturbild: Natur ist schön, wenn sie uns ihre Gaben freundlich preisgibt, aber unwirtliche Natur ist hässlich. Im Rahmen der Romantik wird dies umgewertet und gerade die unvertraute Natur wird zum letztlich unerreichbaren Sehnsuchtsort.

Sehr interessant ist, dass Sie ansprechen bzw. kritisieren, dass in industrieller Perspektive Natur „durchgehend als materielle Ressource konzipiert“ wird. Für welche Sichtweise plädieren Sie?

Von der Methode her plädiere ich für gar keine Sichtweise. Die Methode versucht, die Bilder in ihrer Logik zu rekonstruieren und verständlich zu machen. Der einzige gesellschaftliche Zweck der Methode ist, dass sich die Streit-Antagonisten nicht wechselseitig als Idioten darstellen. Es geht nicht darum, dass die einen recht und die anderen unrecht haben, sondern zu verstehen, warum die einen so agieren, wie sie agieren, und die anderen eben anders agieren. Ein Beispiel ist die gegenwärtige Debatte um Corona, in der sich die Kontrahenten wechselseitig als geistig nicht zurechnungsfähig, nämlich als „Coronoiker“ und „Covidioten“, beschimpfen. Hier werden durch die Methode beiden Seiten in ihrem ausschließlichen Wahrheitsanspruch relativiert. Daraus kann ein gewisses Verständnis für die Aktion und Argumentation des jeweils anderen erwachsen.

Sie haben geschrieben, dass das jeweilige Weltbild, durch das wir geprägt sind, auch bestimmt, was wir unter Argumentation und Beweisführung verstehen. Ist damit jeder Diskurs zwischen den Weltbildern zwecklos oder haben wir doch alle einen kleinsten gemeinsamen Nenner?

Man sollte – um dies vorwegzuschicken – nicht zu sehr in Lagern denken, weil wir selbst auch zwischen diesen Weltbildern hin und her wechseln. Ein Beispiel: Wenn wir selber in den Urlaub fahren, folgen wir touristischen Praktiken, die insbesondere auf Sehnsuchtsorte zielen – egal wie stark diese kommerzialisiert sind und wie stark sie durch Aneignungstechniken so leicht zugänglich sind, dass man eigentlich gar keine Alteritätserfahrung dort machen kann. Das Werbemotiv ist trotzdem immer der Sonnenuntergang, die weite Sicht oder irgendetwas, das sich entzieht. Dieselbe Person wird es, wenn sie in den Flieger steigt, begrüßen, dass der Flieger ein gutes Stück Naturbeherrschung leistet und sie an diesen Sehnsuchtsort bringt. Dies hat auch „Die Partei“ ironisch aufgegriffen mit dem Plakat „Mit uns schneller zu Klimazielen“, welches einen Düsenflieger zeigt, der in den Sonnenuntergang aufsteigt. Das zieht auf eine wunderbare Weise die Ironie zusammen, dass man dem romantischen Motiv folgt und gleichzeitig einer industriellen Praktik frönt – nämlich dem Fliegen. Auf der anderen Seite sind wir auch (in einem nicht-ideologischen Sinne) heimatorientiert: Vermutlich jeder sucht sich vertraute Orte und hütet diese. Fazit: In unseren Alltagspraktiken folgen wir allen drei Motiven. Insofern sind wir auch in der Lage, die Sichtweise des jeweils anderen zu rekonstruieren. Wenn die Weltbilder allerdings in einem politischen Streit aufeinandertreffen, sind die Akteure gezwungen, sich in ihrer Sichtweise politisch erkennbar zu machen. Hier ist dann Verständnis – zumindest auf der Vorderbühne – ausgeschlossen. Bei der politischen Konfrontation müssen die Linien klar bleiben, um sie handlungsfähig zu erhalten, sonst versucht die Gegenseite die Zugeständnisse aus dem Kontext zu reißen und für sich zu vermarkten. Insofern sind politische Konfrontationen auch wahnsinnig eintönig, weil die Sprecher gezwungen sind, immer dasselbe zu sagen.

Hierzu eine Nachfrage: Wieso kann man es den Bürgern nicht zumuten, dass es differenzierte Ansichten gibt? Wieso müssen politische Lager so streng voneinander getrennt sein?

Ich glaube, das Problem ist nicht, dass man es dem Bürger als Individuum nicht zumuten kann. An Max Webers Parteiensoziologie orientiert muss man aber sagen, dass Parteien in großen Gesellschaften entstanden sind, um den Bürgern Orientierung zu bieten, wer für was steht. Parteien sind Bündel von politischen Forderungen. Diese Bündel müssen irgendwie beieinander bleiben: Wenn ein Bündel jederzeit zur Disposition stehen würde, würde das Organisations-Momentum der Partei verschwinden. Als Wissenschaftler müssen wir der Wahrheit folgen und die richtigen Argumente anerkennen. Im politischen Raum dagegen werden „Gesamtpakete“ gehandelt, deren Zerstückelung ein Problem darstellen würde. Ich selbst war als Vertreter eine NGO tätig und musste bei öffentlichen Auftritten bedenken, dass ich als Vertreter der NGO bzw. des politischen Blocks in einem politischen Raum stehe und nicht als Privatperson oder Wissenschaftler handele.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Was ist Ihre Einstellung zur Natur?

Die Natur war für mich immer ein Freiraum und Autonomie. In meiner Jugend waren Zeltlager für mich die ersten Möglichkeiten der Befreiung: Die Herausforderung, selbst kreativ zu sein. Ich habe auch immer gerne viel handwerklich gemacht, was auch Protest gegen mein bürgerliches Elternhaus war. Zum Beispiel an Mopeds herumgeschraubt, so dass ich nicht auf Taschengeld und die damit verbundenen Beeinflussungsversuche angewiesen war. Das Handwerk war ein unmittelbarer Umgang mit der Materie und nichts Ideelles, wie man es vornehmlich in den feinen Bürgerhäusern so pflegt. Das war schmutzig, anstößig und hat Autonomie verschafft. Wenn ich als Jugendlicher spaßeshalber mit dem alten Bundeswehrschlafsack im Wald geschlafen habe, war das Unabhängigkeit: Wenn man mit Natur umgehen kann, braucht man kein Geld.

Grundsätzlich: Der Natur war ich schon immer vertraut, ich fahre auch heute noch viel Fahrrad und bin viel in der unwirtlichen Natur der Alpen unterwegs.

Vielen Dank für das Interview!

Prof. Dr. Bernhard Gill studierte Politikwissenschaft in Berlin und forschte seither immer an der Schnittstelle von Gesellschaft und Natur, insbesondere im Rahmen der Science and Technology Studies, der Umweltsoziologie, der Umweltökonomie und der interdisziplinären Energieforschung. Er war früher politisch vor allem in der Gentechnikkritik engagiert und ist Mitglied des Gen-ethischen Netzwerks. Seit 1996 ist er Akademischer Rat am Institut für Soziologie der LMU München und war zu Lebzeiten Mitarbeiter von Ulrich Beck. Er leitet die drittmittelfinanzierte Arbeitsgruppe „Lokale Passung“, die sich transdisziplinär darum bemüht, energiesparende Technik sozialverträglich und nutzer*innenfreundlich zu gestalten.

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