Heterotopien als Kritik?
Über das emanzipatorisch-kritische Potenzial der Serie »The Wire«
„Das Schiff ist die paradigmatische Heterotopie. In Gesellschaften ohne Schiffe verstummen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer, und die Polizei die Piraten.“[1]Foucault, Andere Räume, 46; eigene Übersetzung.
“We chose that area almost at random. The established Fayette Street strip that runs from Gilmor up the hill to Monroe Street is one of a hundred, perhaps a hundred and twenty open-air drug markets operating in Maryland’s largest city [Baltimore, P.K.]. As such, it appeared to us typical; Franklin Square therefore seemed comparable to any number of inner-city neighborhoods overwhelmed by the drug trade.”[2]Simon and Burns, The Corner, 537.
Is HBO the new Balzac?
Über die amerikanische Fernsehserie The Wire (Home Box Office, HBO, 2002-2008) wird gewöhnlicherweise in Superlativen gesprochen: Einen „Balzac für unsere Zeit“ nennt Richard Kämmerlings die Serie[3]Kämmerlings, „The Wire“., andere Kommentator*innen sind gar davon überzeugt, dass selbst die Superlative noch zu kurz greifen.[4]Jensen, HBO-Serie „The Wire“. The Wire ist soziologische Milieustudie, Epos des industriellen Niedergangs, Chronik von Polizei- und Drogengewalt.
Die realistischen Romane des 19. und 20. Jahrhunderts, mit denen The Wire häufig verglichen wird, waren stets zugleich ein Stück Sozialkritik: Balzacs Père Goriot wendet sich gegen Korruption und mangelnde soziale Mobilität; Zolas Germinal kritisiert die Stratifikation der industriellen Gesellschaft und beleuchtet die Versuche, eine gerechtere Gesellschaftsordnung herbeizuführen. Aus der zunächst bloßen Darstellung der sozialen Verhältnisse erwuchs so die Kritik an ihnen. Wenn die Qualitätsserien des 21. Jahrhunderts in ihrer Machart den klassischen realistischen Romanen gleichen, stellt The Wire dann eine Form von Gesellschaftskritik dar? Die Antwort auf diese Frage wird über einen Umweg gegeben, indem The Wire vor der Analysefolie von Michel Foucaults Konzept der Heterotopie gelesen wird. The Wire lässt sich als Heterotopie verstehen, durch die und in der Gesellschaftskritik möglich wird: „Es könnte auch anders sein“.[5]Ich möchte an dieser Stelle Markus Rieger-Ladich für die stete Erinnerung daran danken, dass „alles auch anders sein könnte“.
Vier Formen der Heterotopie
Foucault entfaltet sein Konzept der Heterotopie in der Einleitung zur Ordnung der Dinge und in zwei Radiobeiträgen aus den Jahren 1966 und 1967, Die Heterotopien (Les hétérotopies)[6]Foucault, Die Heterotopien. und Andere Räume (Des espaces autres).[7]Foucault, Andere Räume. Er beschreibt Heterotopien als
“wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.”[8]Foucault, Andere Räume, 39.
Foucault unterscheidet in Die Heterotopien zunächst Krisen- von Abweichungsheterotopien. Die Krisenheterotopie ist „in der Regel Menschen vorbehalten, die sich in einer [scheinbaren oder tatsächlichen, P.K.] biologischen Krisensituation befinden“.[9]Foucault, Die Heterotopien, 12. Bei Naturvölkern gab es Foucault zufolge spezielle Häuser für Frauen während der Geburt und Regelblutung und für Jugendliche während der Pubertät. Diese Krisenheterotopien sind in modernen Gesellschaften, auch durch Emanzipationprozesse, weitestgehend verschwunden. Sie wurden stattdessen durch die Abweichungsheterotopien ersetzt, also „Orte, welche die Gesellschaft an ihren Rändern unterhält […und die] eher für Menschen gedacht sind, die sich im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten“.[10]Foucault, Die Heterotopien, 12. Foucault nennt als Beispiele hier unter anderem psychische Anstalten und Gefängnisse.
In Andere Räume kontrastiert Foucault Illusions- und Kompensationsheterotopien. Diese beiden Ausprägungen verweisen stärker darauf, dass Heterotopien „gegenüber dem verbleibenden Raum eine Funktion haben“[11]Foucault, Andere Räume, 45., also in direkter Verbindung zur sie umgebenden Gesellschaft stehen. Illusionsheterotopien schaffen hierbei einen Illusionsraum, der den Realraum – die „Wirklichkeit“ – als noch illusorischer erscheinen lässt als den Illusionsraum selbst.[12]Foucault, Andere Räume, 45. Foucaults Beispiel sind die frühen Bordelle, in denen die Last der Wirklichkeit über der Illusion einer erotischen „Wunschwelt“ vergessen werden konnte. Eine Kompensationsheterotopie hingegen ist ein „andere[r] wirkliche[r] Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, mißraten und wirr ist“.[13]Foucault, Andere Räume, 45. Foucault führt Kolonien der Jesuiten und Puritaner als Beispiele für Kompensationsheterotopien an.
Die Illusionsheterotopie lässt sich am ehesten mit einer opiaten Wirkung vergleichen, über deren „Genuss“ soziale Probleme der „realen“ Welt vergessen werden. Die Kompensationsheterotopie hingegen ähnelt mehr der klassischen Utopie, indem sie ein positives Gegenbild zur düsteren Gegenwart zeichnet. Durch ihren heterotopischen Charakter ist sie jedoch im Gegensatz zur Utopie kein bloßes Gedankenkonstrukt, sondern ein realer materieller Ort, der nur die Funktion der Utopie übernommen hat. Verschiedene Aspekte von The Wire lassen sich, wie wir sehen werden, mit der Kompensationsheterotopie vergleichen.
Heterotopie und Spiegel: „Speculative Heterotopie“
Wir haben es bei Heterotopien also mit Orten zu tun, die real und materiell existieren und eine andere Ordnungsstruktur als die restliche reale Welt aufweisen. Genau an dieser Stelle wird durch den Vergleich der heterotopischen Ordnung und der realen Ordnung die Möglichkeit zur Kritik im Modus des „es könnte auch anders sein“ eröffnet. Deshalb soll nun Foucaults Konzept des „Spiegels“ erläutert und daraus eine eigene der Kompensationsheterotopie sehr nahe Form der Heterotopie, die „speculative Heterotopie“, entwickelt werden.
Wie schon angeführt, unterscheidet Foucault Heterotopien von Utopien durch die Frage nach der jeweiligen Materialität. Utopien sind „Platzierungen ohne Ort“ und dadurch „wesentlich unwirkliche Räume“.[14]Foucault, Andere Räume, 38f. Heterotopien sind hingegen „tatsächlich realisierte Utopien“, die als „Gegenplatzierungen und Widerlager“ in die Gesellschaft eingebaut sind und kategorial anders sind als die Räume, die sie reflektieren. Zwischen diesen beiden Polen – Utopien und Heterotopien – gibt es Foucault zufolge noch ein Drittes, repräsentiert durch den „Spiegel“. Einerseits ist der Spiegel eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist und mich als Betrachter*in an einem Ort zeigt, an dem ich nicht bin. Andererseits ist der Spiegel zugleich eine Heterotopie, weil er konkret existiert und mich als dort anwesend zeigt, wo ich tatsächlich bin. Die Gleichzeitigkeit aus Anwesenheit im realen Raum und vermeintlicher Abwesenheit bei gleichzeitiger Anwesenheit im nicht-realen Raum macht das Wesen des Spiegels aus.[15]vgl. Foucault, Andere Räume, 39.
Das Konzept des Spiegels als einer speziellen Form der Heterotopie lässt sich auf Fernsehserien wie The Wire anwenden. Aus der Verbindung von Heterotopie und Utopie ergibt sich die „speculative Heterotopie“, die sowohl Elemente der (Kompensations-)heterotopie als auch der Utopie in sich trägt. Der etwas altertümlich anmutende Begriff „speculative Heterotopie“ ergibt sich von lat. speculum: Der Spiegel. Der semantische Nebeneffekt dieser Benennung ist die Aufnahme eines assoziativen „spekulativen“ Moments in das Konzept der Heterotopie. Der Modus des „es könnte auch anders sein“ wird genau durch dieses spekulative Moment ausgedrückt. Für mediale Formen der Darstellung, die vor und auf einem Bildschirm ablaufen, ist dieses Konzept sehr gut geeignet. Bei den entsprechenden Lichtverhältnissen sehen sich die Betrachter*innen im Bildschirm manchmal auch selbst. Das „es könnte auch anders sein“ ist auf einmal ganz nah an die eigene Lebenswelt herangerückt. Der Modus der „speculativen Heterotopie“ impliziert deshalb stets schon ein kritisches Moment, das es nun zu entwickeln gilt.
Der Analyse von The Wire als „speculativer Heterotopie“ werden die fünf von Foucault genannten Grundsätze der Heterotopologie (der Wissenschaft von den Heterotopien) zugrunde gelegt. Ihm zufolge etabliert jede Kultur ihre eigenen Heterotopien, die sich im Laufe der Zeit wandeln können. In Heterotopien sind mehrere Räume an einem Ort versammelt und treten meist in Verbindung mit Heterochronien auf. Heterotopien setzen schließlich ein System von Öffnung und Schließung voraus. Wie diese fünf Aspekte in The Wire analysiert werden können, soll durch ein close reading sowohl der Serie als auch der Radiobeiträge gezeigt werden. Dabei wird jeweils nacheinander auf zwei unterschiedliche Analyseebenen eingegangen: Neben die offensichtliche erste Ebene – die des Inhalts, der story der Serie – tritt mit der Ebene der Zuschauer*innenerfahrung vor dem Fernsehgerät eine zweite hinzu, die separat analysiert wird. The Wire ist dieser Analyse zufolge Heterotopie auf zwei Ebenen.
“This America, man”: Amerikanische Heterotopie
Schon die erste Szene der Serie verrät uns sehr viel über The Wire als Heterotopie. [16]S01E01, Min. [1:09-2:45]. Jimmy McNulty, Polizist des Baltimore Police Department und einer der Hauptcharaktere der Serie in der ersten Staffel, sitzt neben einem Tatort mit einem Freund des Opfers auf einer Mauer. Das Gespräch dreht sich zunächst um den street name des Opfers, „Snot Boogie“. Im Laufe des Gesprächs kommt der Freund auf die Tatnacht zusprechen. Wie jeden Freitagabend habe die Freundesgruppe hinter einem Motel gewürfelt; als genug Geld in der Mitte lag, habe Snot Boogie – wie jedes Mal – das Geld gegriffen und sei davongelaufen. Ungläubig bohrt McNulty nach, doch der Freund bleibt dabei. Snot Boogie habe jeden Freitagabend seine Freunde zu bestehlen versucht, und sei daraufhin – jeden Freitagabend, nur diesmal offensichtlich mit Todesfolge – von ihnen verprügelt worden. Auf die Frage danach, wieso sie das zugelassen haben, antwortet der Freund nur: „Got to. This America, man“. Die deutsche Übersetzung lautet an dieser Stelle fälschlicherweise: „Er gehörte zu uns. Das ist Amerika, Mann“. Die „korrekte“ Übersetzung müsste lauten: „Wir mussten [es zulassen]“.
Der erste Grundsatz der Heterotopologie ist Foucault zufolge, dass jede Kultur der Welt ihre eigenen Heterotopien etabliert, die je unterschiedlich ausgeprägt sind.[17]Foucault, Andere Räume, 40. Was also ist die typisch amerikanische Ausprägung der Heterotopie in The Wire? Die oben beschriebene erste Szene ist Allegorie für diese typisch amerikanische Heterotopie. Der American Dream ist Sinnbild für die Möglichkeit, unter Einsatz aller persönlichen Kräfte ein (meist materielles) Ziel zu erreichen. Dieses stark auf das Individuum konzentrierte Leitbild wird von (zumindest rhetorisch) radikaler Chancengleichheit flankiert. Dass diese formale Gleichheit durch unzählige stratifikatorische Elemente wie Klassenzugehörigkeit, Ethnizität und Geschlecht vorstrukturiert ist, bleibt in der medialen und ideologischen Kommunikation meist außen vor, hat jedoch reale Auswirkungen – nicht zuletzt auf die Charaktere der Serie wie Snot Boogie.
Das „Amerika vor dem Fernseher“ – also die meist der Mittelschicht entstammenden Zuschauer*innen – erleben The Wire als soziologische Milieustudie einer ihnen unbekannten Nachbarschaft – die wenigsten von ihnen werden schon einmal in den porträtierten Vierteln Baltimores unterwegs gewesen sein. Sie kennen die Berichte von Drogendelikten, dem War on Drugs und den Strafprozessen von blutigen Straßenkriegen. Den meisten wird die emotionale Verfasstheit der Straßendealer und kingpins hingegen wenig vertraut sein. Anders verhält es sich mit der Polizeiarbeit, deren institutionelle und moralische Funktionsweise aus zahlreichen Polizeiserien bekannt ist. The Wire fordert seine Zuschauer*innen zwar[18]vgl. hierzu Bruun Vaage, „Our Man Omar“, 211. – aber auch nicht zu sehr. Im Laufe der fünf Staffeln wird der Fokus, anders als durch die Eingangsszene nahegelegt, von kriminellen Einzelpersonen (Diebstahl durch und Mord an Snot Boogie) zu korrupten und korrumpierenden Strukturen übergehen. In den in diesen prekären Strukturen gefangenen – teilweise hoch idealistischen – Individuen wie Major Colvin, D’Angelo Barksdale und Roland „Prez“’ Pryzbylewski dürfte sich eine Vielzahl an Zuschauer*innen gespiegelt wiederfinden – sie können das „typisch amerikanische“ an dieser Heterotopie leicht entziffern.
„Hamsterdam“: Heterotopien im Wandel
Die wohl offensichtlichste Heterotopie in The Wire ist „Hamsterdam“, eine in der vierten Folge der dritten Staffel von Major Howard Colvin eigenmächtig eingerichtete Zone, in der Drogenhandel de facto durch die Polizei geduldet wird. Der Name „Hamsterdam“ entsteht aus einem falsch mitgehörten Gespräch über die Ähnlichkeit des Experiments zu Amsterdam durch die street kids. Andere Heterotopien sind beispielsweise die special classes und der Boxclub. Mit gesunkener Kriminalität und weit weniger Drogendelikten in allen anderen Stadtteilen sowie einer guten medizinischen Versorgung für Drogenabhängige in „Hamsterdam“ ist das Experiment ein großer Erfolg. Trotzdem wird „Hamsterdam“ wenige Episoden später auf Druck von Colvins Vorgesetzten und örtlichen Politiker*innen durch Bulldozer zerstört und das soziale Experiment auf brutale Weise beendet.
Der zweite Grundsatz der Heterotopologie lautet, dass „eine Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte eine immer noch existierende Heterotopie anders funktionieren lassen kann“.[19]Foucault, Andere Räume, 41. Heterotopien unterliegen also Wandel und können sich sowohl materiell als auch semantisch verändern. Ihr Status als Heterotopie bleibt über diese Verwandlungen hinweg erhalten. Wir sehen im Laufe der dritten Staffel die Heterotopie „Hamsterdam“ entstehen, wir erleben ihr Bestehen mit und sind Zeug*innen ihres Abbruchs und ihrer Zerstörung. Obwohl die drug tolerant zone in späteren Staffeln nicht mehr explizit erwähnt wird, bleibt sie dennoch im kollektiven Gedächtnis der Bewohner*innen von Baltimore haften. Auch die Zuschauer*innen vor dem Bildschirm werden durch diese Heterotopie affiziert. Sie treten – im besten Fall – in den „spekulativen Modus“, in dem ein soziales Experiment wie „Hamsterdam“ zumindest nicht mehr völlig abwegig erscheint. Diese Erfahrung kann realpolitische Auswirkungen haben, wenn dadurch Wahlentscheidungen und aktivistisches Engagement beeinflusst werden. Dass die Heterotopie auch aus dem Bildschirm heraustreten kann, wird in den sozialen Experimenten in Christiania, Santa Cruz und Philadenphia deutlich. Die Wandelbarkeit der Heterotopien verweist auf die Wandelbarkeit der Realität und ermöglicht dadurch Kritik.
Low Rises, High Rises: Überlappende Räume
Dem dritten Grundsatz der Heterotopologie zufolge „vermag eine Heterotopie an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind“[20]Foucault, Andere Räume, 42.; Theater, Gärten und das Kino sind Foucaults Beispiele. Hier richtet sich der Blick auf die gesamten fünf Staffeln der Serie.
Die Schauplätze von The Wire erstrecken sich nicht nur von den Low Rises und High Rises in West und East Baltimore zu den Räumen des Baltimore Police Department; auch die Hafenanlagen und Gewerkschaftsbüros von Baltimore, die Edward Tilghman Middle School, das Rathaus und das Großraumbüro der Baltimore Sun werden gezeigt und die sie bevölkernden Menschen porträtiert. Viele der Orte sind über mehrere Staffeln hinweg Teil der Serie und werden durch die sie frequentierenden Charaktere zu einem dichten Netz an „überlappenden Räumen“ verwoben. Die einzelnen Orte und Institutionen sind – mit Luhmann gesprochen – in ihrer Funktionslogik teilweise unvereinbar und stellen die Charaktere vor massive Habitus- und Kommunikationsprobleme. Ersichtlich ist das beispielsweise an „Prez’“ vergeblichen pädagogischen Versuchen in der Middle School oder an dem Verhalten der hopper im Verhörraum des Police Department. Auch die Zuschauer*innen sehen sich „überlappenden Räumen“ gegenüber; haben sie gerade noch ihre Kinder ins Bett gebracht oder ihren Eltern versichert, „bald schlafen zu gehen“, finden sie sich nun in Räumen wieder, die ihnen als Angehörige der Mittelschicht grundsätzlich fremd sind. Die Erfahrung von Fremdartigkeit hat hier schon emanzipatorisches Potential, da die Orte in The Wire meist zwar dieselben sind wie in den Nachrichtensendungen – die Pfade, denen der Blick der Kamera folgt, sind jedoch grundsätzlich andere. Aus dem „es könnte auch anders sein“ kann hier gemäß der speculativen Heterotopie ein „es ist auch anders!“ werden.
Serialität und Heterochronie
Die neue Form der Serialität von The Wire lässt sich mit dem vierten Grundsatz von Foucaults Heterotopologie beschreiben. Unter dem zu Heterotopie symmetrischen Terminus „Heterochronie“ beschreibt Foucault die Eigenschaft von Heterotopien, an Zeitabschnitte gebunden zu sein; Foucault schreibt: „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“.[21]Foucault, Andere Räume, 43. Friedhöfe, Bibliotheken und Feriendörfer sind Beispiele hierfür. Wie wir im Folgenden sehen werden, stützt die Untersuchung einer neuen Form der Serialität die These, dass The Wire als Heterotopie im Sinne des vierten Grundsatzes gelesen werden kann.
Von „klassischen“ Serien unterscheiden sich die neuen Qualitätsserien wie The Wire dadurch, dass sie einen zusammenhängenden Handlungsbogen haben und jede neue Folge nicht nur personell (d.i. in Bezug auf den cast) sondern auch inhaltlich (d.i. in Bezug auf die storyline) an die vorangehende Folge anschließt.[22]für eine Zusammenfassung vgl. Rieger-Ladich, „Deeply Involved“. Handlungsbögen erstrecken sich nun über mehrere Folgen und lassen mehrere sich überlappende und um Aufmerksamkeit konkurrierende Erzählstränge zu. Zusammen mit den komplexen Figurenkonstellationen erfordert diese horizontale Dramaturgie von den Zuschauer*innen ein enormes Maß an Aufmerksamkeit und einen hohen Zeitaufwand.[23]Mittell, „Narrative complexity in contemporary american television“, 29ff. Zusätzlich erlauben
„[…t]ime-shifting technologies like VCRs and digital video recorders […] viewers to choose when they want to watch a program, but, more important for narrative construction, viewers can rewatch episodes or segments to parse out complex moments.“[24]Ebd., 31.
Auch die Sehgewohnheiten ändern sich in ihrer zeitlichen Ordnung, da nun nicht mehr jeden Sonntag auf die neue Folge gewartet werden muss, sondern die gesamte Serie quasi on demand zu Verfügung steht. Dass diese neue Form der Serialität Auswirkungen auf das Sehverhalten der Zuschauer*innen hat, versteht sich von selbst. Die emotionale Bindung an die Charaktere der Serie steigt ebenso wie der bloße Grad an Beschäftigung mit den Inhalten der Serie. Das Serienschauen wird insgesamt intensiver.
“Out the game early”: Öffnung und Abschließung
Nach dem fünften Grundsatz der Heterotopie setzen Heterotopien „immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht“.[25]Foucault, Andere Räume, 44. Im Falle der Kaserne oder des Gefängnisses, so Foucault, handelt es sich um einen erzwungenen Eintritt; in anderen Fällen mag es Riten oder Bräuche für den Ein- und Austritt aus einer Heterotopie geben.
In The Wire erleben wir verschiedene Formen der Öffnung und Schließung, des Ein- und Austritts. Uns eröffnen sich in jeder neuen Folge andere Perspektiven auf Baltimore; die Protagonist*innen treten aus ihren Institutionen heraus und wechseln in andere. Am Übertritt zwischen diesen Institutionen sind die Figuren stets mit Ritualen und Habitustransformationen konfrontiert, die die eingeschränkte soziale Mobilität der amerikanischen Gesellschaft verdeutlichen. Neben die Rhetorik (individuelle Leistung und Selbstbestimmung) tritt die Realität des American Dream (dysfunktionale und exkludierende Institutionen; habituelle Hürden). Indem D’Angelo zwei jungen hoppern das Schachspielen erklärt, öffnet er ihnen zugleich die Augen für die subtilen Mechanismen der Hierarchie, des Zugangs zur Macht: Wie die Bauern im Schach, scheiden auch die soldiers, die jungen Fußsoldaten des Drogenhandels, meistens frühzeitig aus dem Spiel aus: out the game early.
Für die Zuschauer*innen sind diese Öffnungs- und Schließungsmechanismen, das Einlegen der DVD oder das Laden der entsprechenden Internetseite; das Zurechtrücken der Decke und das Bereitstellen der Chipstüte. Tatsächlich erscheinen die Eintrittsmechanismen relativ klar; die Austrittsmechanismen aus der Heterotopie The Wire sind wesentlich heterogener und meist äußerlich – durch Partner*innen, Eltern oder die Lohnarbeit – erzwungen.
Möglichkeitssinn und Kritik
Wie wir gesehen haben, lässt sich Foucaults Konzept der Heterotopien auf The Wire anwenden. Die „speculative Heterotopie“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl utopische als auch heterotopische Merkmale in sich vereint und somit Raum für Kritik bietet. „Speculative Heterotopien“ sind, wie Heterotopien, einerseits reale Orte, an denen reale Personen miteinander agieren und gesellschaftliche Konflikte in alternativen Ordnungsrahmen aushandeln. Sie sind gleichzeitig jedoch auch Utopien, weil sie als Schauplätze einer Serie bloßes Filmset und kein „wirklich“ reales Sozialexperiment in West Baltimore sind. Sie sprechen die Imagination der Zuschauer*innen an und versetzen diese in einen „spekulativen“ Modus des „es könnte auch anders sein“, in dem reale Probleme aus einem neuen Blickwinkel betrachtet werden können. Die Frage nach der Legalisierung des Drogenhandels wird dadurch von einer ideologisch-politischen zu einer Frage nach „möglichen Welten“ im doppelten Sinne. Einerseits ist die „Welt“ der Serie eine „mögliche Welt“, weil sie medial erschaffen wird, nicht jedoch die aktuelle politische Lage darstellt. Andererseits repräsentiert die Serie reale gesellschaftliche Kämpfe und politische Aushandlungsprozesse, in die die Zuschauer*innen konkret eingreifen können – das City Council von Baltimore tagt jede Woche, Polizeigewalt findet auf den Straßen Baltimores tagtäglich statt usw. Das emanzipatorisch-kritische Potential besteht also in der Ausweitung der Blickwinkel und der Eröffnung von Möglichkeitsräumen; oder, mit Musil gesprochen, in der Aktivierung des „Möglichkeitssinnes“[26]Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 16ff. der Zuschauer*innen: The Wire lässt sich entsprechend als Heterotopie verstehen, durch die und in der Gesellschaftskritik möglich wird.
Referenzen
↑1 | Foucault, Andere Räume, 46; eigene Übersetzung. |
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↑2 | Simon and Burns, The Corner, 537. |
↑3 | Kämmerlings, „The Wire“. |
↑4 | Jensen, HBO-Serie „The Wire“. |
↑5 | Ich möchte an dieser Stelle Markus Rieger-Ladich für die stete Erinnerung daran danken, dass „alles auch anders sein könnte“. |
↑6 | Foucault, Die Heterotopien. |
↑7 | Foucault, Andere Räume. |
↑8 | Foucault, Andere Räume, 39. |
↑9, ↑10 | Foucault, Die Heterotopien, 12. |
↑11, ↑12, ↑13 | Foucault, Andere Räume, 45. |
↑14 | Foucault, Andere Räume, 38f. |
↑15 | vgl. Foucault, Andere Räume, 39. |
↑16 | S01E01, Min. [1:09-2:45]. |
↑17 | Foucault, Andere Räume, 40. |
↑18 | vgl. hierzu Bruun Vaage, „Our Man Omar“, 211. |
↑19 | Foucault, Andere Räume, 41. |
↑20 | Foucault, Andere Räume, 42. |
↑21 | Foucault, Andere Räume, 43. |
↑22 | für eine Zusammenfassung vgl. Rieger-Ladich, „Deeply Involved“. |
↑23 | Mittell, „Narrative complexity in contemporary american television“, 29ff. |
↑24 | Ebd., 31. |
↑25 | Foucault, Andere Räume, 44. |
↑26 | Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 16ff. |