Emmy Noether
Begründerin der modernen Algebra
Emmy Noether wäre retrospektiv betrachtet wohl eine der Feministinnen. Wenn man sie kennen würde. Das tun damals wie heute aber fast nur Mathematiker und Physiker, inzwischen *-innen. Ihrer Zeit wurde sie von Studenten auch oft als der Noether bezeichnet.[1]Weyl, „Nachruf,“ 219. Heute erinnert man sich an Emmy Noether als Begründerin der modernen Algebra.[2]Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra, 147.
Emmy Noether sticht heraus.[3]Alle nachfolgenden biografischen Angaben zu Emmy Noether sowie deren Interpretation sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, entnommen aus: Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra. Sie strebt Anfang des 20. Jahrhunderts eine Karriere als Mathematikerin an. Nachdem sie als Lehrerin fertig ausgebildet und zugelassen ist, lernt sie weiter, um 1903 formal die Voraussetzung zu erfüllen, ein Studium beginnen zu können. Mit dem Abitur hat eine Frau zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Recht auf Immatrikulation beziehungsweise in Bayern erst seit kurzem inne. Sie ist also auf die Erlaubnis der Professoren der Universität in Göttingen angewiesen, um Vorlesungen hören zu dürfen. Emmy Noether studiert bei Hilbert und Klein. Sie verkürzt ihre Zeit dort. Im Wintersemester 1904 beginnt sie das Studium der Mathematik erneut, diesmal an der Universität in Erlangen, wo sie Vorlesungen bei ihrem Vater sowie dem Freund der Familie, Professor Gordan, besucht.
Ihr akademisches Interesse umfasst neben der Mathematik auch die physikalische Forschung. Mit Erlangen und kurzzeitig Göttingen als Studienort begegnet sie einer Reihe einflussreicher Menschen, die die mathematische und physikalische Entwicklung sehr prägen werden und knüpft Kontakte, die ausschlaggebend für ihre späteren mathematischen Leistungen sein werden.
1907 promoviert sie bei Professor Gordan, unterstützt die Forschung ihres Vaters und betreut Doktoranden, deren Abschlussarbeiten offiziell von männlichen Professoren beaufsichtigt und begutachtet werden. Ab 1908 gehört sie der Deutschen Mathematikervereinigung an.
1915 erhält sie eine Einladung von Hilbert und Klein an die Universität Göttingen, um neben vorausgegangenen Forschungsarbeiten nun auch persönlich die mathematische Forschung voranzutreiben. Das tut sie. In den nächsten vier Jahren wird sie dreimal einen Antrag auf Habilitation einreichen.
Die Fakultät ist gespalten. Noethers Kollegen setzen sich für sie ein, dennoch zweifeln einige Professoren sowie das Ministerium selbst an den akademischen Fähigkeiten von Frauen im Allgemeinen, weshalb die Genehmigung so schwer durchzusetzen ist. Noethers Wissen sowie ihre Leistungen sind nicht Inhalt dieser Diskussion. Sie hält Vorlesungen, tituliert als Lehrauftrag von Hilbert – fachlich stark disjunkt. Eine Reihe bedeutender Professoren, darunter Einstein, reichen beim zuständigen Ministerium Schriften mit Bitte um Sondergenehmigung für Emmy Noethers Habilitation ein. Anfang 1919 setzt Klein nach und argumentiert, dass niemand anderes der forschenden Köpfe dieser modernen Zeit es vermag, Probleme zu lösen, die Emmy klärt.[4]Tobies, „Frauenstudiums in Preußen.“ 162. Das Ministerium lenkt ein.
So ist Emmy ab 1919 Privatdozentin an der Universität Göttingen. Ihre Habilitationsschrift ist in Form der Noether-Theoreme bis heute zentral in der Physik und die mathematische Grundlage für Einsteins Relativitätstheorie.[5]„Emmy Noether. Mutter der Modernen Algebra.“ BR, o.J., letzter Zugriff: 11.01.20, https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/entdeckungen-grosser-forscher/noether-emmy-100.html. Die Habilitation macht Emmy Noether als unabhängig agierende Wissenschaftlerin sichtbar und dennoch kämpft sie weiter mit den Umständen ihrer Zeit. Sie veröffentlicht häufiger in mathematischen Zeitschriften. Es folgt Anerkennung. 1922 wird ihr schließlich der Titel nicht beamteter außerordentlicher Professor an der Universität Göttingen verliehen, gewöhnlich bedarf es dafür mindestens sechs Jahre ab der Habilitation. An dieser Stelle sei erwähnt, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt, Noether ist inzwischen 40, keinerlei Vergütung für ihre mathematische Arbeit und Forschung bekommen hat. Mit dem Tod ihres Vaters und der Inflation erhält sie nun erstmals ein Entgelt von universitärer Seite, damit es ihr finanziell überhaupt möglich ist, weiterhin am Lehrstuhl zu wirken. 1928 im Wintersemester tritt Emmy Noether ihre erste Stelle als Gastprofessorin an der Universität in Moskau an, 1930 folgt ein Semester an der Universität in Frankfurt. Diese kurze Phase um 1922 -1932 stellt emotional wie mit Blick auf ihr Avancement den Höhepunkt ihres Lebens dar.
Emmy Noether prägt die begriffliche Mathematik entscheidend. Was bedeutet das?
Sie stellt Begriffe in den Mittelpunkt.[6]Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra, 74. Sie betrachtet mathematische Objekte (z.B. Ringe) und deren Eigenschaften allgemein und blickt damit über deren einzelne Elemente hinweg[7]Ebd., 79; 90. – das unterscheidet sie von der bisherigen Art, die Mathematik, konkret die Algebra, zu denken. Begriffe zeigen Beziehungen, also Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen mathematischen Objekten, auf.[8]Ebd., 78. Begriffe sind „Gedankenkonstrukte“[9]Ebd., 76.. Begriffe sind abstrakt. Und: Begriffe sind funktional.[10]Ebd., 76. Das Besondere daran? Sie lösen sich vom Alltag, vom Substanziellen, von einer ontologischen Begründung.[11]Ebd., 76; 89. Die Mathematik verliert ihren Bezug zur physischen Welt und wird abstrakt, in Begriffen gedacht eben. Begriffliches Denken heißt „die Frage nach Strukturen zu stellen“[12]Ebd., 104.. Dabei wird klar, dass es ihr vorrangig nicht darum geht, Neues einzuführen, sondern bekannte Begriffe zu präzisieren.[13]Ebd., 87.
Was Emmy tut, ist allgemeinere Strukturen und damit neue Verbindungen sichtbar machen. Sie schafft eine völlig neue Perspektive.
In diesem Kontext ist eine weitere Eigenschaft Emmy Noethers zu erwähnen: Diskursivität. Ihr Vorgehen ist im klassisch philosophischen Sinn diskursiv[14]Ebd., 73., „von Begriff zu Begriff methodisch fortschreitend“[15]Dudenredaktion: „diskursiv“ auf Duden online, o.J., letzter Zugriff: 11.01.20, https://www.duden.de/rechtschreibung/diskursiv.. Begriffe sind bei Emmy Noether dynamisch, ihre Grenzen werden erst im Forschungsprozess erkannt, definiert und weiter gedeutet.[16]Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra, 73-74.
Diskursiv ist Emmy Noether aber auch deshalb, weil sie ihr Gegenüber stark in ihre Gedankengänge einbezieht, weil sie zu ihrem Zuhörer oder Leser spricht – das ist ein Teil dieser begrifflichen Arbeitsweise.[17]Ebd., 73; 102 Ihr Vater, Professor Max Noether, hatte oft mathematischen Besuch und so war es schon als Kind für Emmy üblich, zuhause fachliche Diskussionen in gemütlicher Atmosphäre zu führen.
Emmy Noether ist Kontinuität, sie arbeitet stetig mit der Mathematik. Aber sie spricht eben auch einfach über die Mathematik – in wissenschaftlichen Arbeiten sowie personell beziehungsweise im postalischen Diskurs mit anderen Mathematikern.
Emmy Noether vertritt ihre diskursive Art zu forschen auch an der Universität. Sie entwickelt in der Vorlesung mit den Studentinnen und Studenten ihre mathematischen Gedanken und Ansätze weiter und bezieht sie so in ihre Forschung mit ein. Ab 1920 beginnt sich dabei die Bezeichnung Noether-Schule zu etablieren – darunter versteht man das algebraische Netzwerk um Emmy Noether, das wie sie die Algebra begrifflich denkt.[18]Ebd., 141. Insbesondere der Personenkreis bestehend aus den Studenten, die bei ihr in Göttingen Vorlesungen gehört oder promoviert haben, ist als Zentrum der mathematischen Bewegung anzusehen, der die abstrakte respektive moderne Algebra entspringen wird. Es wird gemeinsam neu und weiter gedacht. Privates und Forschung greifen ineinander. Noethers Studierende tragen diese zeitgemäße moderne Denkweise persönlich oder über die Veröffentlichung ihrer Doktorarbeiten an anderen Universitäten. Viele junge Menschen kommen nun gezielt nach Göttingen, um bei Emmy Noether zu studieren. Sie bietet eine exzellente Ausbildung. Das zeigt sich daran, dass viele ihrer Studierenden auf Basis dieser besonderen Denkweise die Mathematik entscheidend prägen werden und bedeutende wissenschaftliche Stellen antreten werden; hier kann man Krull, van der Waerden sowie die späteren Mitglieder der Bourbaki-Gruppe anführen.
Parallel verfügt Emmy über ein erstaunliches großes Netzwerk mit fachlichen Freunden, Bekannten und anderen Professoren. Ihre Verbindungen reichen zu den großen Köpfen dieser Zeit: Einstein, Hilbert, Klein, Gordan, Fischer, Hasse, Weyl, Dedekind bis zu Alexandroff nach Russland über die Deutsche Mathematikervereinigung weit hinaus. Ein neuer Ansatz oder eine mathematische Frage wird eifrig auf der Rückseite einer Postkarte einer solchen Kontaktperson zugestellt und beeinflusst reziprok die weitere Forschungsarbeit.
1932 wird sie für genau diesen Einfluss auf die Algebra, der Entwicklung hin zur modernen Algebra, gemeinsam mit ihrem Kollegen Emil Artin mit dem Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis geehrt und gilt fortan als eine der führenden mathematischen Professoren. Im selben Jahr hält sie auf einer der großen fachlichen Veranstaltungen ihrer Zeit, dem Mathematikkongress in Zürich, einen der 14 Hauptvorträge, wofür sie auch international hohe Anerkennung erfährt.
1933 erreicht der Machteinfluss der Nationalsozialisten die Universität in Göttingen. So muss Emmy Noether, wegen des Vorwurfs jüdischer und sozialdemokratischer Nähe, zwangsbeurlaubt werden, bis sie kurz darauf schließlich einen Lehrauftrag an einem Frauencollege in Bryn Mawr nahe Princeton in Amerika annimmt. Noether ist international anerkannt zu diesem Zeitpunkt – kämpft als Frau aber weiter mit den Umständen ihrer Zeit. An die Universität in Princeton selbst darf sie nicht berufen werden.
So verläßt Emmy Noether Göttingen, wo sie in ihrem einzigartigen weit gespannten feinen Netzwerk mathematischer Persönlichkeiten agierte. Auch nach der Emigration unterhält sie diese Kontakte weiter bis 1935, bis sie überraschend nach einer Routineoperation in Amerika verstirbt.
Über ihr mathematisches Netzwerk, insbesondere ihre Studenten, werden ihr Denken und ihre Ansätze der Algebra und damit der Mathematik bewahrt bleiben. Sie ist die Begründerin der modernen Algebra.
Referenzen
↑1 | Weyl, „Nachruf,“ 219. |
---|---|
↑2 | Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra, 147. |
↑3 | Alle nachfolgenden biografischen Angaben zu Emmy Noether sowie deren Interpretation sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, entnommen aus: Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra. |
↑4 | Tobies, „Frauenstudiums in Preußen.“ 162. |
↑5 | „Emmy Noether. Mutter der Modernen Algebra.“ BR, o.J., letzter Zugriff: 11.01.20, https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/entdeckungen-grosser-forscher/noether-emmy-100.html. |
↑6 | Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra, 74. |
↑7 | Ebd., 79; 90. |
↑8 | Ebd., 78. |
↑9, ↑10 | Ebd., 76. |
↑11 | Ebd., 76; 89. |
↑12 | Ebd., 104. |
↑13 | Ebd., 87. |
↑14 | Ebd., 73. |
↑15 | Dudenredaktion: „diskursiv“ auf Duden online, o.J., letzter Zugriff: 11.01.20, https://www.duden.de/rechtschreibung/diskursiv. |
↑16 | Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra, 73-74. |
↑17 | Ebd., 73; 102 |
↑18 | Ebd., 141. |