Warum die Philosophie die Naturwissenschaften braucht. Und umgekehrt.
Die Naturwissenschaft stellt große, wichtige Fragen – Fragen, an denen die Philosophie scheinbar kein Interesse mehr hat. Die Beschäftigung mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen ist wichtiger denn je. Psychologen*innen und Neurowissenschaftler*innen erforschen intensiv die Einflussfaktoren auf unser Verhalten und stellen die Frage, ob dem Menschen noch ein freier Wille bleibt. Die NASA plant, Anfang der 2020er Jahre Astronaut*innen weiter als je zuvor ins All zu schicken. Quantenphysiker*innen heben unser klassisches mechanisch-deterministisches Weltbild aus den Angeln und beschäftigen sich wieder mit der Rolle, die der Zufall in unserem Universum spielt. Es werden Fragen behandelt, die unser Selbst- und Weltverständnis für immer verändern könnten.
Man könnte durchaus euphorische Reaktionen auf diese Erkenntnisse erwarten. Wie aber reagiert die Philosophie auf die naturwissenschaftliche Arbeit? Mit Überheblichkeit, Diskreditierung der Methodik und Abgrenzung. Doch das Problem besteht auf beiden Seiten: Philosoph*innen erscheinen als weltfremd, unsere Thesen als obskur, nicht falsifizierbar und realitätsfern. Den Naturwissenschaften kann hingegen die Überheblichkeit vorgeworfen werden, alle Probleme der Menschheit lösen zu wollen, losgelöst von menschlicher Subjektivität und Erfahrung.
Aber wohin führt uns diese gegenseitige Abwertung? Auf jeden Fall nicht weiter. Breite Schnittstellen zu anderen Disziplinen waren immer ein wesentlicher Bestandteil der Philosophie, den wir nicht aufgeben dürfen. Das heißt aber, sich auf Diskussionen einzulassen, mit Vertretern anderer Disziplinen zu kommunizieren, den eigenen Horizont zu erweitern und das eigene Wissen auch anderen nahezubringen.
Die Philosophie ist nicht von der Naturwissenschaft abhängig. Aus dieser Unabhängigkeit heraus kann sie ihr mehr bieten: Genaue Begriffsarbeit, strenge Methodenkritik, Sicherheit im Umgang mit Texten und Argumenten, exakte Überprüfung von angeblich zwangsläufigen Folgerungen. Wir können diese Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Resultaten und Publikationen einsetzten, wir müssen es sogar, wenn wir uns nicht selbst aus der Debatte ausschließen wollen. Wir dürfen dabei nicht überheblich sein. Die Naturwissenschaften behandeln Probleme von größter historischer und menschheitsgeschichtlicher Relevanz. Interaktion und Zusammenarbeit, nicht Konkurrenz sollte die Devise lauten. Wir haben in einigen Bereichen mehr Wissen und Erfahrung, Naturwissenschaftler*innen dafür in anderen Bereichen. Worum es geht, ist, unser Wissen zu kombinieren, unsere (oft gemeinsamen) Probleme aus unterschiedlichen und neuen Blickwinkeln zu betrachten und so auf neue, zuvor noch ungeahnte Lösungen zu kommen.
Wir dürfen uns nicht aus der Welt zurückziehen. Wir dürfen uns nicht von der Wahrheit entfernen. Wenn wir uns nicht mehr an aktuellen Debatten beteiligen, und die Probleme der Wissenschaften als unwichtig abtun, haben wir etwas falsch gemacht. Die Philosophie hat ein enormes Potential zur Interdisziplinarität, weit größer als das der meisten anderen Disziplinen. Lasst uns dieses Potential nicht verschwenden.