Idealismus und Wirklichkeit

Die im Titel vorgenommene Gegenüberstellung ist eine herkömmliche und einleuchtende. Man kennt sie in unterschiedliche Begriffe gekleidet; Geist und Natur, Gedanke und Materie – hier sei sie unter Idealismus und Wirklichkeit, im Sinne einer vorhandenen Realität, gefasst.

Dabei versteht sich der Idealismus gegenüber der Wirklichkeit als von höchster Geistigkeit geprägte Theorie, deren Zweck es ist, das Ideal als das Wahre, Gute und Schöne zu verwirklichen, woraus für den Idealismus zwei unterschiedliche, ja, einander ausschließende Ansprüche folgen: dass es einerseits sein Gegenteil, die vorhandene Wirklichkeit, nicht geben dürfte – dessen von ihm unabhängige Existenz würde ja seine unbedingte geistige Freiheit einschränken – und andererseits, dass es das Gegenteil gerade geben muss, denn ein Moment der Verwirklichung, also ein Übergang des Wahren, Guten und Schönen in die Wirklichkeit, gehört zum Ideal wesentlich dazu.

Also scheitert der Idealismus schon an sich selbst. Das zweiseitige Idealismus-Wirklichkeit-Problem gibt es ganz offensichtlich nicht, und das Vorhaben, dessen ungeachtet dennoch mit dieser Modellierung fortzufahren, wäre, wie das Stolpern eines Menschen beim Gehen folgendermaßen zu beschreiben: den ungestörten Gang der Person mit ihrem plötzlichen Fall als durch nichts außer einen neutralen Punkt – das Stolpern – verbunden zu sehen, sie also als klar getrennte Dinge zu betrachten, während bei genauerem Hinsehen doch offenbar ist, dass nur durch das Gehen das Stolpern und damit der Fall kam. Wäre der Mensch nie gegangen, wäre er nie gestolpert.

Der Idealismus, dessen Ziel es war, das Gute, Wahre und Schöne zu verwirklichen, muss also, indem er sich selbst in seinem Gegenteil fortgesetzt findet, einsehen, dass gerade in der ihn zum Stolpern bringenden Wirklichkeit die Vollendung seines höchsten Zweckes liegt. Um seines höchsten Zweckes willen muss er sich selbst aufgeben, um seiner selbst willen muss er sich loslassen.

Allerdings kann der Idealismus dieses Loslassen nicht vollziehen, indem er sich mithilfe einer Konstruktion wie Geist oder Vernunft systematisch mit der Wirklichkeit versöhnt. Denn damit würde er sich in der Konstruktion zwangsläufig selbst konservieren, und so seinem notwendigen Scheitern aus dem Weg gehen.

In diesem Sinne kann das Loslassen nur momenthaft geschehen. Es muss sich dabei um einen Moment handeln, in dem der Idealismus einerseits seine Grenzen anerkennt, sich zu seinem weiteren Fortbestehen als gescheiterter Idealismus bekennt und nicht länger an seiner Unantastbarkeit festhält. Andererseits ist es gerade dieser Moment, den der Idealismus als seinen größten erlebt, denn indem er sich aufgibt, wird er vollendet.

Ende und Vollendung des Idealismus fallen momenthaft in eins, die Wirklichkeit geht in ihm auf – einmalig wird sie ein Teil des gescheiterten, aber lebendigen Idealismus; und weit davon entfernt, den Idealismus aufgeben zu müssen, kann vielmehr von seiner Auferstehung die Rede sein.

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