Hegel im Einkaufszentrum

Manchmal beschleicht einen das Unbehagen, dass Hegel doch nicht Recht habe. Insbesondere im Einkaufszentrum, umgeben von verkleideten Charaktermasken, beginnt man an seiner Kritik der Physiognomik zu zweifeln. In der Phänomenologie des Geistes heißt es an einer Stelle: “Zu dem äußeren Ganzen gehört also nicht nur das ursprüngliche Sein, der angeborene Leib, sondern ebenso die Formation desselben, die der Tätigkeit des Innern angehört; er ist Einheit des ungebildeten und des gebildeten Seins und die von dem Fürsichsein durchdrungene Wirklichkeit des Individuums.” (Hegel 1986: 234) Der Leib ist demnach nicht nur Gewesenes oder Gegebenes, das unveränderlich dem inneren Werden gegenübersteht. Hegel geht es um ein dialektisches Verhältnis von Innen und Außen, das sich im Leib als Ausdruck vermittelt.

Demgegenüber stehen “Astrologie, Chiromantie und dergleichen Wissenschaften”, in denen nur “Äußeres auf Äußeres, irgend etwas auf ein ihm Fremdes bezogen zu sein” (ebd.: 236) scheint; die versprochene Notwendigkeit der Beziehung von Innen und Außen, die sich als eine zwischen Fürsichsein und Ansichsein entfaltet, ist bei jener “Konstellation bei der Geburt [oder] diese[n] Züge[n] der Hand” (ebd.) nicht gegeben. “Eine solche willkürliche Verbindung von solchen, die ein Äußeres füreinander sind, gibt kein Gesetz.” (Ebd.) Ob man also zwei sich kreuzende Linien in der Handfläche hat oder gewisse Planeten, Sterne und ominöse Asteroiden in der Geburtsnacht, am besten noch mit Blitz und Donner, sich kreuzten, ist als willkürliche Beziehung von Äußerem aussagelos. Das verspricht gerade die Physiognomik — nach dem Grimm “die kunst aus dem äuszern, besonders aus den gesichtszügen und mienen das innere zu erforschen, die damit sich befassende wissenschaft” — nachzuholen. Die Physiognomik will das Gesetz der Beziehung von Innen und Außen geben, um den Geist am Leib zu deduzieren: Schau mir in die Augen, Kleines. Und ich sage dir, wer du bist.

Hegel kommt es aufklärerisch stattdessen darauf an, das Fürsichsein am tätigen Leib aufzuzeigen: “Sprache und Arbeit sind Äußerungen […]” (ebd.: 235), Veräußerungen des Geistes. In konkreten Handlungen hebt sich der Gegensatz von Innen und Außen insofern auf, als das Innere sich ins Äußere legt, der Geist am und im handelnden Leib erscheint. “Die Individualität […] legt ihr Wesen in das Werk.”  (Ebd.: 240) Die unreflektierte Vernunft, die der Physiognomik zugrunde liegt, bleibt an dem Widerspruch haften, der noch ein Inneres postuliert, das in der Handlung bereits ins Äußere übergegangen ist. Diese Borniertheit ist die Meinung. “Das unmittelbare Meinen über die gemeinte Gegenwart des Geistes ist die natürliche Physiognomik, das vorschnelle Urteil über die innere Natur und den Charakter ihrer Gestalt bei ihrem ersten Anblicke.” (Ebd.: 241) Hegel hält dem mit Lichtenberg entgegen: “Das wahre Sein des Menschen ist vielmehr seine Tat; in ihr ist die Individualität wirklich, und sie ist es, welche das Gemeinte in seinen beiden Seiten aufhebt.” (Ebd.: 242)

In dieser Bestimmtheit ist Hegels Abwehr der Physiognomik, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, radikal emanzipatorisch. Der dialektisierende Bürger, der damit die Grundlagen für den Sturz des Bürgertums legte, wehrt sich gegen die der Klassengesellschaft inhärente klassifizierende Festschreibung des Individuums anhand seines Äußeren. Zurecht polemisiert er gegen die Verfahren, die das Innere der Individuen anhand ihres sinnlich wahrnehmbaren Äußeren deduzieren möchten. Demgegenüber stellt er die Tat. Genie ist man also nicht dank Geheimratsecken und zerfurchter Stirn — wie sich das etwa der traurige Jurist Dostojewskis einbildet, der sich eigens dazu die Schläfen ausrasiert. Genie, oder in diesem konkreten Falle Schriftsteller, wird man erst durch sein geschafftes Werk; Sartre hat das in Der Idiot der Familie auf tausenden Seiten ausgemalt. Genau an dieser Stelle jedoch zeigt sich der Zeitkern der Hegelschen Wahrheit. Seine aufklärerische Polemik lässt eine Seite unterbestimmt, die des individuellen Leibes.

Die bestimmte Negation der Physiognomik ist zugleich eine rettende, das wäre nach dem Scheitern der Aufklärung gegen Hegel festzuhalten. Nimmt er das somatische Moment des Fürsichseins ernst, müsste er, gegen die Oberfläche seines Textes, zugestehen, dass der Leib und damit das Äußere als Kristallisation der je individuellen Lebenserfahrung gelten kann — allerdings vermittelt über die Erfahrung und nicht unmittelbar als Einwirkungen der “geistigen Individualität” (ebd.: 245) auf den Leib. “Das unendliche Urteil als unendliches wäre die Vollendung des sich selbst erfassenden Lebens […].” (Ebd.: 262) Das zerstörte Gesicht Hegels, Spiegel der unendlichen Anstrengung, die Welt in ein vernünftiges System des Geistes zu pressen, bewahrt die Wahrheit gegen seinen wahren Text auf; auch hier flüchtet sie sich in den Leib. Das unendliche Urteil, das sich selbst erfassende Leben ist somit der Leib selbst, in den sich das Leben des Geistes einschreibt, der nie so getrennt von ihm war, wie Hegel das gegen die Einsichten mancher Sätze seiner Phänomenologie bestimmte. In Sprache, Tat und Arbeit verschränkt Hegel selbst die beiden Seiten des Widerspruchs: “Sprache und Arbeit sind Äußerungen […].” (Ebd.: 235) Die Arbeit konkret als körperliche, nicht abstrakt von der Seite des Geistes her entfaltet, wäre bereits die bei ihm selbst angelegte Antwort auf die Frage nach der Vermittlung.

Zumal das ruhende Äußere, das die Physiognomik vergeblich in den Gesichtszügen sucht, nach dem Untergang der Klassengesellschaft verdinglicht in der Mode aufgehoben ist. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in Die Erfindung der Kreativität den Prozess, durch den die Mode zum “Instrument für eine originelle Stilisierung als Individuum” (Reckwitz 2014: 167) wird. Inspiriert durch Benjamin, der als erster die Mode dialektischer Betrachtung zugänglich machte, fixiert Reckwitz den Umschlag an der Figur des Dandy, den Hegel noch nicht kennen konnte. Noch später kommt dieser Prozess zu sich selbst. “Nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere seit 1960 erlebt das Modesystem einen zweifachen Umbruch: Es wandelt sich zu nächst von einer Exklusiv- zu einer Inklusionsform und wird anschließend zu einem dynamischen System pluraler Stile, das sich primär nicht mehr an Klassen, sondern an aktive Konsumenten als Individuen mit Stilisierungswünschen wendet.” (Ebd.)

So wandelt sich der eine Stil zum in sich selbst pluralen Style. Das ist die negative Aufhebung der Hegelschen Kritik: Ist mit der formalen Emanzipation des Individuums das Äußere, vulgo das Aussehen, einmal als Dynamik pluraler Stilisierung erschlossen, entschärft sich auch seine Polemik. Wenn solcherart das Äußere nicht mehr klassengebunden festgeschrieben ist, sondern als unter dem Imperativ des Kreativen stehende Äußerung der jeweiligen Individualität bestimmt werden kann, gewinnt eine reflektierende Betrachtung der jeweiligen Kleidung an Wahrheitswert. Dabei muss der Erkenntnisgewinn als ein wesentlich negativer festgehalten werden. Hegel behält gegen die Versuche Recht, despektierlich an den jeweiligen modischen Präferenzen der Individuen ihr Wesen zu deduzieren. Abstrakt wie Individualität in der kapitalistischen Gesellschaft bleibt auch die Wahrheit, die die Mode über sie verrät. Das Streben nach der jeweiligen “kulturelle[n] Distinktion”, wie es Reckwitz formuliert, d.h. der darin ausgedrückte Wunsch nach einer spezifischen Funktion innerhalb des Verwertungszusammenhangs, lässt sich jedoch am haltlosen aber nicht wahrheitslosen “Spiel der Zeichen und Affekte” (ebd.), als das die Mode mit Roland Barthes aufgefasst werden kann, allemal ablesen.

 

Literaturverzeichnis:

Hegel, Georg W. F. (1986): Phänomenologie des Geistes. (= Werke Bd. 3). Suhrkamp. 1. Aufl. Frankfurt a.M.
Reckwitz, Andreas (2014): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Suhrkamp. 3. Aufl. Frankfurt a.M.

 

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