Gegen sachliche Kritik

Gute Kritik ist nicht sachlich. Gute Kritik ist menschlich.

Was heißt es, gute Kritik sei menschlich? Sie zu üben ist eine Praxis, mit der wir uns in einem ethischen Problemfeld situieren. Aber meinen wir mit sachlicher Kritik nicht zu aller erst gute Kritik? Sie lässt den neutralen Sachbezug anklingen, der uns vor den Versuchungen durch persönliche Gefühle und implizite Vorurteile schützt. In sachlicher Hinsicht weiß sie also um ihre Fehlbarkeit, indem sie sich von jedem Urteil über ihr Gegenüber enthebt. Mit sachlicher Kritik prüfen wir Gehalt und Form der vorgebrachten Argumente. Was wir kritisieren, sind Standpunkte oder Argumente, nicht Personen.

Doch dieser erste Eindruck täuscht. Denn gute Kritik weiß nicht nur um ihre sachliche Fehlbarkeit, sondern auch um ihre menschliche Fehlbarkeit. Sowenig, wie sie ihr Objekt verfehlen darf, darf sie sich ihrer Adressatin gegenüber vergreifen. Ein berechtigter Einwand mag nun entgegnen, dies sei dem sachlichen Gesichtspunkt der Kritik inhärent. Wir können so von der impliziten Sachorientierung guter Kritik sprechen, so lange sie eben sachlich bliebe. Allerdings verdeckt dieser Einwand das eigentliche Problem.

Wenn wir einander kritisieren und dabei sachlich bleiben, beziehen wir uns auf Argumente. Wir kritisieren sie, statt einander. Doch was bringt Kritik den Argumenten?

„Sie macht uns besser, indem wir die Schwächen unserer Argumente verstehen!“

Dieser Einwand markiert den Kern unserer Überlegung. Das Objekt sachlicher Kritik ist ein Argument. Dadurch, dass sich die Kritik nur auf Argumente bezieht, gibt sie sich den Anschein von sachbezogener Neutralität. Sie versteht sich selbst als jedem menschlichen Tun in eine Sphäre reiner Gehalte enthoben und meint gerade dadurch einen Anspruch auf ethische Richtigkeit erheben zu können.

Allerdings birgt diese Neutralität vor dem Menschen die Gefahr, ihn nicht mehr als Adressaten zu sehen. Kritik ist in einem überbordenden Sachbezug selbst versachlicht; sie dient nicht mehr der Bildung frei urteilender Personen, sondern der Selbstvergewisserung des besseren Argumentes.

Ihre Adressatin ist aber ein Mensch.

Kritik ist bildend: Sie soll dazu befähigen, Dinge anders zu sehen, die Grenzen fester Meinungen zu überschreiten. Sie soll uns als argumentierende und reflektierende Wesen ernst nehmen. Wollen wir der Gefahr einer rhetorischen Selbstbereicherung des besseren Argumentes entgehen, müssen wir die Kritik als Praxis verstehen, der ein eigener Tugendkatalog inne wohnt. Als menschliche Kritik mit Sachbezug kann Kritik den Menschen bilden – und nicht nur das bessere Argument gewinnen lassen.

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