Walter Benjamin und der philosophische Stil
Zum Einschluss des Transzendenten ins Denken bei Walter Benjamin.
Walter Benjamin skizziert in der Vorrede zu seinem Trauerspielbuch den Begriff philosophischen Stils durch eine Reihe von Postulaten; er wird über die Forderung bestimmt, gewisse Ausdrucksmittel an die Stelle anderer zu setzen, wodurch der Eindruck eines Programms entsteht, das Benjamin dem Ausdruck der Gedanken verordnen möchte.:
Der Begriff des philosophischen Stils (…) hat seine Postulate. Es sind: die Kunst des Absetzens im Gegensatz zur Kette der Deduktion; die Ausdauer der Abhandlung im Gegensatz zur Geste des Fragments; die Wiederholung der Motive im Gegensatz zum flachen Universalismus; die Fülle der gedrängten Positivität im Gegensatz zu negierender Polemik.[1]SG 71.
Auf der einen Seite dieses Programms stehen die Begriffe des Absetzens, der Ausdauer, der Wiederholung und der Fülle; auf der anderen Seite gelte es Deduktionen, die „Geste des Fragments“, Universalisierungen und Negativität zu vermeiden. Für Benjamin wird es notwendig, einen eigenen philosophischen Stil zu postulieren, weil für ihn Forschen und Philosophieren als getrennte intellektuelle Tätigkeiten in zunehmende Unschärfe geraten – obwohl beide Arten der intellektuellen Betätigung für Benjamin grundsätzlich verschiedene Aufgaben zu bewältigen hätten. Er schreibt zu dieser Abgrenzung:
Die großen Philosophen stellen die Welt in der Ordnung der Ideen dar. (…) Ist Übung im beschreibenden Entwurfe der Ideenwelt, dergestalt, daß die empirische von selber in sie eingeht und in ihr sich löst, die Aufgabe der Philosophie, so gewinnt er [der Philosoph] die erhobne Mitte zwischen dem Forscher und dem Künstler. Der letztere entwirft ein Bildchen der Ideenwelt und eben darum, weil er es als Gleichnis entwirft, in jeder Gegenwart ein endgültiges. Der Forscher disponiert die Welt zu der Zerstreuung im Bereich der Idee, indem er sie von innen im Begriffe aufteilt. Ihn verbindet mit dem Philosophen Interesse am Verlöschen bloßer Empirie, den Künstler die Aufgabe der Darstellung.[2]SG 70f.
Benjamins Versuche, die Philosophie zu disambiguieren sind allerdings nicht voraussetzungslos und wir werden uns im Folgenden noch eingehender mit dem Begriff der Idee befassen. Benjamin schließt mit diesem Begriff an die platonische Tradition einer apriorischen Wesensbestimmung an, die starke theologische Obertöne aufweist. Er diskutiert somit die Wesensbestimmung nicht im Zusammenhang von alltäglichen Fragen oder Interessen wissenschaftlicher Einzelerkenntnisse, sondern verlangt diesem Begriff eine darüber hinausweisende Konzentration ab. So wird die Spannung deutlich, die den Ausgangspunkt für Benjamins Stilbestimmung darstellt. Sie liegt im Verhältnis zur Empirie, das Philosophie und Forschung miteinander verbindet, aber auch trennt: Benjamin sieht im philosophischen Nachdenken weniger eine Gliederung der Wirklichkeit, als vielmehr ihre Zusammenschau auf bestimmte Konzentrationszentren hin, die er als „Ordnung der Ideen“ bezeichnet. Forschung sei zwar auch an einem letztlich nicht empirischen Verständnis der Dinge interessiert, habe dabei aber statt der „Ordnung der Ideen“ eine „begriffliche Gliederung“ des Wirklichen im Sinn. „[D]ie Welt (…) von innen“ zu erfassen bezeichnet so auch ein instrumentelles Verhältnis zum Ideellen: Es zählt nur, insofern es eine schlüssige Interpretation einzelner Daten erlaubt. Wir können hier etwa an das Aufdecken von Gesetzmäßigkeiten denken, die zwar selbst nicht als Phänomene beobachtet werden können, diese aber wie ein inhärentes Prinzip bestimmen. Dagegen erkenne die Philosophie in der „Ordnung der Ideen“ einen Blickpunkt, von dem aus die Welt nicht in der „Ordnung“ empirisch gebundener Begriff erscheint.
Die Abhebung der Philosophie von der Forschung hat damit das Ziel, den philosophierenden Blick für seine eigene Form zu schärfen. Benjamin führt den Begriff des philosophischen Stils so vor dem Hintergrund der Frage ein, was philosophisches Nachdenken im Unterschied zu anderen intellektuellen Tätigkeiten auszeichnet. Zur Beantwortung der Frage Was ist Philosophie? erscheint ihm ein Verweis auf die Ausdrucksformen des philosophischen Nachdenkens unerlässlich. Um dieser Verbindung auf den Grund zu gehen, wollen wir der schrittweisen Entfaltung des Darstellungsproblems folgen, die Benjamin in der Vorrede vornimmt.
Lehre und Darstellung
Wir haben bereits gesehen, dass sich Philosophie Benjamin zufolge mit Ideen im Unterschied zu empirischen Phänomenen oder deren allgemeiner Interpretation befasst. Wir wollen nun verstehen, was es heißt, das Ideelle darzustellen und inwiefern es sich dabei um die paradigmatische Form eines auf Wahrheit ausgerichteten Denkens handeln soll. Philosophischer Stil wird zunächst dann zum Gegenstand einer Problematisierung, wenn sich das Denken Auskunft über das geben soll, was es tut, wenn es sich auf die Wahrheit bezieht. Es ist nämlich diese Form des Denkens, die wir letztlich in den Ausdrucksmitteln wiederfinden müssen, sollen diese dem philosophischen Nachdenken tatsächlich entsprechen. Auf der einen Seite stehen dabei die Mittel sprachlichen Ausdrucks. Sie sind die Arten, auf die wir Orientierung stiften und uns die Welt und ihre Erscheinungen als so und so bestimmte verständlich machen. Wir haben, mit anderen Worten, in den Ausdrucksmitteln unserer Sprache Möglichkeiten zu sehen, Sinn zu artikulieren. Sinn soll dabei als Orientierung verstanden werden, als konkret bestimmtes Auftreten einer Sache in einem Kontext. Auf der anderen Seite steht nun die Frage: Welcher Ausdruck ist dem jeweils angemessen? So wie ein Zeichensystem eine bestimmte Art der Kontextualisierung (etwa die räumliche) priorisieren mag, so mag man sich auch fragen, welche Art der Sinnstiftung der Wahrheit angemessen ist. Das sich so abzeichnende Darstellungsproblem verlangt im Fall der Philosophie nach der Bestimmung ihres Gegenstandes – für Benjamin also der Ideen – und ihres geteilten Bezugspunktes, der Wahrheit. Diese Bestimmung ist zugleich eine Kritik der entsprechenden Ausdrucksmittel. Da wir als sprachliche Wesen stets auf die Perspektive einer bestimmten Orientierung verwiesen sind und nur in ihr die Gegenstände unseres Ausdrucksvermögens bestimmen können, geht die Untersuchung von Wahrheit und Idee implizit bereits mit einer Behandlung des philosophischen Stils einher – mit Benjamin geht es uns darum, dies explizit zu machen.
Am Anfang der erkenntsniskritischen Vorrede steht eine allgemeine Überlegung zur Darstellungsproblematik philosophischer Gedanken. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung stehen die Unterscheidung der Philosophie von einer systematischen Lehre sowie eine Metaphysik des Fragments. Sie ist durch zwei Optionen gekennzeichnet: den beiden „philosophischen Formen, welche durch die Begriffe von der Lehre und von dem esoterischen Essay“ ([3]SG 65.) bezeichnet werden.
Zwar wird es [das philosophische Schrifttum] in seiner abgeschlossenen Gestalt Lehre sein, solche Abgeschlossenheit ihm zu leihen aber liegt nicht in der Gewalt des bloßen Denkens. (…) Was an den philosophischen Entwürfen Methode ist, das geht nicht auf in ihrer didaktischen Einrichtung. Und dies besagt nichts anderes, als daß ihnen eine Esoterik eignet, die abzulegen sie nicht vermögen (…).[4]SG 65.
Was Benjamin hier unter Lehre versteht ist die historisch geprägte Darstellung von Gedanken in einer abgeschlossenen Form und in didaktischer Aufbereitung. Ihr entspricht das System der Erkenntnisse als entwickelte Wissenschaft. Dem steht in der Philosophie ein Element gegenüber, das keiner didaktischen Aufbereitung zugänglich. Benjamin verbindet den Begriff der Wahrheit dabei nicht mit der systematischen Form der Erkenntnis, sondern bestimmt ihn im Esoterischen. Den Grund dafür nennt er in einer äußerst knappen Kritik am Systembegriff des neunzehnten Jahrhunderts:
Soweit er [der Systembegriff] die Philosophie bestimmt, droht diese einem Synkretismus sich zu bequemen, der die Wahrheit in einem zwischen Erkenntnissen gezogenen Spinnennetz einzufangen sucht als käme sie von draußen herzugeflogen. (…) Will die Philosophie nicht als vermittelnde Anleitung zum Erkennen, sondern als Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren, so ist der Übung dieser ihrer Form, nicht aber ihrer Antizipation im System, Gewicht beizulegen.[5]SG 65f.
Wenn Benjamin Wahrheit und Erkenntnis von einander abhebt, so scheint es, bezahlt er dies mit dem Preis des Obskurantismus. Prägnant ist der Verweis auf den „Synkretismus“, der drohe, vermische man die Darstellungsformen von Erkenntnis und Wahrheit. Versuche man nämlich die Wahrheit über ein System von Erkenntnissen zu bestimmen, so scheint es „als käme sie von draußen herzugeflogen“. Die Äußerlichkeit von Wahrheit und Erkenntnis scheint die Wahrheit in einem Zug zu erhöhen und zu mystifizieren. Wie haben wir uns also die Ausdrucksform der Wahrheit vorzustellen? Benjamin weißt darauf hin, dass es der Philosophie nicht um eine „vermittelnde Anleitung zum Erkennen“ gehe, was den Eindruck eines unmittelbaren Bezugs zu Wahrheit nahelegt. Und tatsächlich wählt Benjamin zur Beschreibung des Ausdrucks von Wahrheit den Term „Darstellung“, der ein solches Verhältnis andeutet. Mit dem Wort „Darstellung“ verbinden wir eine Abbild-Metaphorik. Bezieht sich beispielsweise ein Kunstwerk auf etwas Reales, wird es als darstellend bezeichnet. Allerdings befinden wir uns dabei auf unsicherem Boden. Schleiermacher beispielsweise ordnete in seiner kanonischen Übersetzung von Platons Staat den Term „Darstellung“ der Mimesis zu und prägte damit den lange Zeit gültigen Rahmen der philosophischen Auseinandersetzung mit der Darstellung von Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund meint darstellen eine ihrem Anspruch nach direkte Beziehung zur Realität, die aber durch ihre Medialität vor ein Rechtfertigungsproblem gestellt wird: Wie kann etwas direkt abbilden, wenn es zugleich das abgebildete Objekt in einer bestimmten Vermittlung zeigt, in ein Medium überführt? Wir sehen hier, wie sich eine Variante von Benjamins Problemstellung wiederholt. Der Begriff der Darstellung enthält das Versprechen unverstellter Wiedergabe. Indem er aber selbst ein Medium der Darstellung verlangt, verneint er zugleich die versprochene Unmittelbarkeit. Benjamins „Spinnennetz“ der Erkenntnisse bezeichnet die Gegenseite dieses Problems; um ihm zu entgehen, könnte man einer Darstellung jeweils eine Reihe von Interpretationen beiordnen. So würde man allerdings das Intendierte ganz im Zusammenhang der Einzelinterpretationen untergehen lassen. Wir stehen so abermals vor der Alternative des Systems, das die Wahrheit erklären, aber nicht zeigen möchte, und der Darstellung, die sie zeigen, aber nicht erklären kann.
Dem entspricht in Benjamins Denken, und im bewussten Anschluss an das platonische Vorbild, die Methodendifferenz von Darstellung und Erkenntnis:
Die Wahrheit, vergegenwärtigt im Reigen der dargestellten Ideen, entgeht jeder wie immer gearteten Projektion in den Erkenntnisbereich. Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch, daß er im Bewusstsein (…) innegehabt werden muß. Ihm eignet der Besitzcharakter. Diesem Besitztum ist Darstellung sekundär. Es existiert nicht bereits als ein Sich-Darstellendes. Gerade dies aber gilt von der Wahrheit. (…) Diese Form [die Darstellung] eignet nicht einem Zusammenhang im Bewusstsein, wie die Methodik der Erkenntnis es tut, sondern einem Sein. (…) Erkenntnis ist erfragbar, nicht aber die Wahrheit. Die Erkenntnis richtet sich auf das Einzelne, auf dessen Einheit aber nicht unmittelbar. Die Einheit der Erkenntnis (…) wäre vielmehr ein nur vermittelt, nämlich auf Grund der Einzelerkenntnisse und gewissermaßen durch deren Ausgleich, herstellbarer Zusammenhang, während im Wesen der Wahrheit die Einheit durchaus unvermittelt und direkte Bestimmung ist.[6]SG 67f.
Benjamin macht hier klar, dass „Darstellung der Wahrheit“ nicht auf eine Mimesis von einzelnen Phänomenen abzielt. Deutlich wird zudem, wie das „Wesen der Wahrheit“ vom Begriff einer vorgetragenen Lehre abgehoben ist: Sie kann weder in einzelnen Erkenntnissen liegen, noch überhaupt eine vermittelte Form annehmen. Benjamin schließt die Erkenntnis dabei dem Bereich des Bewusstseins an, indem er die „Form“ der Wahrheit mit dem „Zusammenhang des Bewusstsein[s]“ kontrastiert und sie zugleich mit dem Begriff des „Sein[s]“ verbindet. So entsteht der Kontrast zwischen einer das Reale selbst vergegenwärtigenden Bezugnahme auf der einen und der Erkenntnis auf der anderen Seite. Benjamins Formulierungen zum Bereich der Erkenntnis machen zudem deutlich, dass diese als eine Über- oder Umformung des in ihr artikulierten als Einzelnes verstanden werden soll. So liege der Gegenstand der Erkenntnis als „Projektion“ vor und werde im Bewusstsein „inne gehabt“. Insbesondere die wiederkehrenden Besitzmetaphern heben hervor, dass für Benjamin in der Erkenntnis ein Gegenstand nicht als er selbst vorliegt, sondern in einer „Form“, die nicht ihm, sondern seinem Gehabt-werden entspricht. Der „Zusammenhang des Bewusstsein[s]“ lässt sich so als dasjenige verstehen, in dem es überhaupt erst Erkenntnisgegenstände geben kann – also Formierung von Erkenntnis.
Am deutlichsten wird das, wenn wir uns den Abschluss des Zitates ansehen. Dort geht Benjamin darauf ein, dass für die Erkenntnis die Einheit ihres Gegenstandes ein abgeleitetes Phänomen ist, rekonstruiert aus dem Zusammenschluss verschiedener Einzelerkenntnisse. Die Einheit der Erkenntnisse gibt somit nicht die Einheit des Realen wieder, von dem die Erkenntnis handeln soll, sondern den Zusammenhang von erst im Erkennen hergestellten Erkenntnisgegenständen. Begreifen wir den „Zusammenhang des Bewusstsein[s]“ als Formierungszusammenhang, so wird es unmöglich, aus der Erkenntnis selbst etwas abzuleiten, das ihr als einheitliches Phänomen vorausgehen würde. Dagegen enthalte das „Wesen der Wahrheit“ diese Einheit als selbst unvermittelte. Ein solches unvermitteltes Reales können wir auch Absolutes nennen. Benjamin fordert hier also eine Darstellung des Absoluten und hebt diese von der Form ab, die das subjektive Bewusstsein kennzeichnet. Was haben wir uns aber unter der von Benjamin geforderten „Übung der Form“ vorzustellen, die uns der Wahrheit näher bringen soll?
Exkurs: Hegels Kritik an der Subjektphilosophie
Für Benjamin ist Erkenntnis paradigmatisch Bewusstseinsinhalt. In diesem Sinne ist sie subjektiv verfasst: Was immer Erkenntnis ist, das wird von einem Subjekt gehabt. Wir haben bereits gesehen, dass derart subjektiv Verfasstes mit dem Begriff der Projektion verbunden ist und daher einen Gegenstand nicht selbst ins Bewusstsein einführt, sondern vielmehr in einer symbolischen Form. Dass sich diese Form vom Besitzverhältnis her verstehen lässt, hebt den angeeigneten Charakter ihrer Gegenstände hervor: So wie etwas nicht schon als Besitz in der Natur vorkommt, sondern gerade erst außerhalb des Natürlichen so verstanden werden kann, ebenso wenig kann ein Erkenntnisgegenstand außerhalb seiner Projektion ins Bewusstsein bereits als Erkenntnisgegenstand begriffen werden. Wir können diesen Formunterschied und seine Bedeutung für den Wahrheitsbegriff mit Blick auf einen historischen Vergleich aufhellen. Hegels Kritik an Kants Subjektphilosophie fasst diesen Konflikt bündig zusammen:
[Die Kritik der Verstandesbegriffe] geht jedoch nicht auf den Inhalt und das bestimmte Verhältnis dieser Denkbestimmungen gegeneinander selbst ein, sondern betrachtet sie nach dem Gegensatz von Subjektivität und Objektivität überhaupt. Dieser Gegensatz (…) bezieht sich (…) auf den Unterschied der Elemente innerhalb der Erfahrung. Die Objektivität heißt hier das Element von Allgemeinheit und Notwendigkeit, d.i. von den Denkbestimmungen selbst (…). Aber die kritische Philosophie [Kants] erweitert den Gegensatz so, daß in die Subjektivität das Gesamte der Erfahrung, d.h. jene beiden Elemente zusammen, fällt und derselben nichts gegenüber bleibt als das Ding-an-sich.
[7]EpW I, 113.
Hegels Vorwurf gegenüber einem am Subjekt alleine orientierten Denken ist dessen Loslösung von seinem eigentlich Anspruch, einzelne Erfahrungen als objektive Gehalte zu begreifen. Als subjektive Erkenntnisse sind sie ganz im Rahmen der Vermögen des Subjekts konstituiert, stehen also selbst innerhalb der ausweislichen Praktiken des Weltbezugs und somit stets unter dem Vorbehalt einer Eingliederung eben dieses Bezugs in das Subjekt selbst. Mit anderen Worten: Wenn alle Erfahrungen subjektiv bestimmt sind, dann steht der Bezug auf die Welt, den sie leisten sollen, selbst noch innerhalb des Subjektiven – wir machen uns gleichsam kein Bild von der Welt, sondern die Welt. Die Erfahrung ist so nicht mehr das, was sie intendiert zu sein: sie ist im Subjekt geleisteter Bezug auf etwas, das auch nur subjektiv vorgestellt werden kann. Ihr steht damit kein Objekt selbst mehr gegenüber, sondern ein zur bloßen Hülse verkommenes Ding an sich. Objektivität, wie sie in Hegels Kritik für die Erfahrung verfügbar sein muss, ist Teil der subjektiven Sinngebung geworden. In demselben Sinne, in dem Kant für sich in Anspruch nehmen konnte, die Dinge an sich als metaphysische Konstrukte aus dem Denken vertrieben zu haben, kann Hegel nun fragen, was denn dabei eigentlich an Objektivität für unsere Urteile übrig bleibe. Was ein dieser Sinngebung externes Ding an sich noch leisten soll, wird also für das subjektive Denken selbst opak.
Zurück zu den Sachen selbst
Der objektive Sinn der Erkenntnis liegt in ihrem Anspruch auf die Durchdringung von etwas, das sie als Bewusstseinsinhalt gerade nicht ist, nämlich objektiv vorliegendes Sein. Dieses negative Verhältnis markiert für Benjamin nun eine Grenze zur Wahrheit: Wenn nämlich Erkenntnis subjektiv ist, so wird sich die Einheit verschiedener Erkenntnisse nur in ihrer nachträglichen Zusammensetzung im Subjekt einstellen. Dabei liegt die Vorstellung zu Grunde, dass Erkenntnis erst im System ihren Gegenstand bestimmen kann. Demnach wird auch dieser nicht direkt das Intendierte sein; wir erreichen daher nichts anderes als unseren Ausgangspunkt, das erkennende Vermögen des Subjekts, nur dieses Mal in den Grund seiner angeblichen Objektivität selbst verwandelt. Die Einheit der Idee wird folglich nicht äußerlich in den Bewusstseinsinhalten bestimmt. Die historische Form, mit der Benjamin dieses Unterfangen positiv bestimmt, ist der scholastische Traktat:
Diese Übung hat sich allen Epochen denen die unumschreibliche Wesenheit des Wahren vor Augen stand, in einer Propädeutik aufgenötigt, die man mit dem scholastischen Terminus des Traktats darum ansprechen darf, weil er jenen wenn auch latenten Hinweis auf die Gegenstände der Theologie enthält, ohne welche der Wahrheit nicht gedacht werden kann. Traktate mögen lehrhaft zwar in ihrem Ton sein; ihrer innersten Haltung nach bleibt die Bündigkeit der Unterweisung ihnen versagt (…). Darstellung als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats. (…) Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation.[8]SG 66.
So wie Erkenntnisse als Produkte des subjektiven Denkens eine bestimmte Struktur haben, in der das Nachdenken zur Ruhe gekommen ist, so hat die Philosophie als philosophische Tätigkeit hier keinen eigentümlichen Ruhepunkt. An dieser Stelle setzt Benjamins Darstellung der Ideen an: Um auf „die Sache selbst“ zukommen, gilt es dem Traktat nämlich, auf sie „zurück“ zu kommen. Die Darstellung steht dabei unter dem Vorsatz des Umweges. Denn während für Hegel ein solcher Weg eben der des Geistes zu sich selbst ist, umkreist er für Benjamin nur seinen Bezugspunkt. Er artikuliert die Tätigkeit des Denkens nicht als systematische Selbstentfaltung – sondern vor dem Hintergrund einer dieser Artikulation immanenten Darstellungsproblematik. Sie stellt sich nämlich gerade darin der Erkenntnis entgegen, dass sie den Glauben abweist, Objektivität gleichsam unmittelbar in einen subjektiven Zugriff übersetzen zu können. Eine eigentliche Übersetzung muss der subjektiven Unzulänglichkeit ebenso Rechnung tragen, wie dem Anspruch, objektive Wahrheit auszudrücken.
Um zu den Sachen „zurück“ zu kommen ist es notwendig, sich zunächst von ihnen zu entfernen – und das heißt, keine direkte Aufschlüsselung der Tatsachen vorzunehmen. Mit anderen Worten: Was die Kontemplation bei Benjamin erschließt, ist kein tieferes Verständnis davon, was in der Welt vorkommt. Sie durchmisst stattdessen die Orientierungsleistungen des Denkens, die dessen Erkenntnissen zu Grunde liegen und die intendierte Realität durch sie hindurch zur Geltung bringen. Das vage Gefühl des Sich-Auskennens, etwa an einem bestimmten Ort, steht Pate für derartige Leistungen. Wir haben diese Leistungen zusammengenommen als Sinn bezeichnet und als denjenigen Hintergrund des Denkens beschrieben, vor dem seine einzelnen Akte verständlich werden, uns Orientierung verschaffen. Damit steht der Sinn nicht an der Stelle der Dinge selbst, sondern gleichsam zwischen ihnen und dem Subjekt. Die Wahrheit geht so nicht ins Netz der einzelnen Erkenntnisse, weil sie prinzipiell von einer anderen Art ist. Sie führt „auf die Sache[n] selbst zurück“, indem sie diese umkreist und so einen geteilten Grund hinter den erscheinenden Dingen andeutet. Die objektive Wahrheit erscheint somit nicht innerhalb einer subjektiven Form, sondern als das im Subjektiven intendierte, das nicht vollkommen in seinen Praktiken aufgehen darf.
Fragmente, Bruchstücke und andere „Gegenstände der Theologie“
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer positiven Bestimmung der Wahrheit. Hier ist Benjamins Hinweis auf die „Gegenstände der Theologie“ instruktiv. Was heißt es, dass sie für das philosophische Denken unerlässlich seien? Unter dem Stichwort des Theologischen führt Benjamin ein Absolutes ein, das gegenüber der Erkenntnis transzendent ist. So wird der Skopus von Benjamins Programm erweitert: Es geht nicht nur darum, im Objekt der Untersuchung dessen Spannung zur subjektiven Denkform mitzudenken; dies ist die gleichsam subjektive Seite der Reflexion. In Gestalt der theologischen Gegenstände kommen nun ihre objektiven Bedingungen hinzu. Der Bezugspunkt der Wahrheit ist so nicht nur als irgendwie reales, sondern als Prinzip des Hervortretens von Realität bestimmt.
Während für Platon aus gerade diesem Grund eine Darstellung (mimêsis) von Wahrheit an ihrer Unfähigkeit zur Transzendenz scheitern musste, ist diese Spannung für Benjamin gerade Ausdruck eines Erfolges der Philosophie. Er schreibt:
Indem sie [die Kontemplation] den unterschiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens (…). Wie bei der Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philosophische Betrachtung nicht um Schwung. Aus Einzelnem und Disparatem treten sie zusammen; nichts könnte mächtiger die transzendente Wucht, sei es des Heiligenbildes, sei’s der Wahrheit lehren. (…) Die Relation der mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und des intellektuellen Ganzen spricht aus, wie der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts sich fassen lässt.[9]SG 66f.
Das Transzendente und das Denkbruchstück stehen in einem Bezug zu einander, der von der Philosophie als Tätigkeit gestiftet wird. Benjamin erkennt dabei das Absolute in einem mimetischen Angrenzen der diskursiven Bestimmungen an das Transzendente. Das philosophische Nachdenken, das, Benjamins Atemübungen gleich, in stets neuen Anläufen dieselbe Sache betrachtet, zerlegt diese auf Seite der Denkprodukte in stets neue Detailansichten; die Versenkung ins Detail ist weit davon entfernt, ein System von Erkenntnissen zu produzieren; im Zentrum von Benjamins Philosophie-Verständnis steht hingegen, dass eine solche Kontemplation die in jedem Denkbruchstück präsente Verweisung auf seinen ganzheitlichen Sinn vor Augen führen muss. Dieses Ganze kann nicht auf dieselbe Art wie ein Denkbruchstück präsent sein. Während nämlich sich Erkenntnis als System von Gedanken darstellen lässt, meint Wahrheit bei Benjamin ein kontemplatives Sich-vor-Augen-führen, dem alle Gedanken letztlich Fragmente einer Ganzheit sind, die so nur als Sinn hintergründig im Denken auftaucht, den konkreten Gedanken aber äußerlich bleibt. In dieser Vorstellung von Philosophie als einer Tätigkeit, die ein Ganzes merklich macht, das so nicht in einzelnen Gedanken ausdrückbar ist, ruht letztlich Benjamins Unterscheidung von Erkenntnis und Wahrheit.
Offenbarung und Platonlektüre
Um den Charakter der Wahrheit näher zu bestimmen, setzt Benjamin sie ins Verhältnis zur Schau des Schönen in Platons Symposion. Auch dort sieht er eine Darstellung der Wahrheit nicht in einer vollständigen Ausbuchstabierung ihres Sachgehalts, sondern in der Offenbarung: „Und nur dieser [Eros] kann es bezeugen, daß Wahrheit nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihm gerecht wird.“[10]SG 70. Der Gedanke ist hier, dass Wahrheit den anziehenden Charakter des Schönen von innen begründet. Wozu die philosophischen Auseinandersetzung anregt, ist nicht die Auflösung einer Verwunderung über noch nicht Verstandenes (wie Aristoteles glaubte); es ist gerade das Alltäglichste, das wir immer, wenn auch nur implizit, zu verstehen glauben, das bei näherem Betrachten dem Verstehen aber entgleitet. Damit wird bei Platon angedeutet, dass in jedem konkreten Verständnis der Bezug zu einem Hintergrund liegt, der über das konkret Verstandene hinausgeht und es in seiner sinntragenden Eigenschaft erst möglich macht. Dieser Hintergrund wird so nicht als weiteres etwas zugänglich gemacht, sondern liegt in einer Selbstreflexion auf die Bedingungen unseres Verstehens.
Auf diese Diskrepanz im Verstehen macht uns Benjamin aufmerksam, wenn er davon spricht, die Wahrheit werde durch Offenbarung und nicht durch Enthüllung dargestellt. Der platonische Eros ist ein solcher Sinn-Getriebener, der auf „Zeugung im Schönen“ [11]Symp. 206b. aus ist. Eine solche Zeugung ist selbst die Fortsetzung des Erstaunens, das hinter jedem sinnlichen Reiz gleichsam lauert. Wenn Benjamin erklärt, Eros verbürge uns den Offenbarungscharakter der Wahrheit, so liegt darin ein Grund für ihre Unauflöslichkeit im Enthüllen. Würden wir sie nämlich ausbuchstabieren können, so fände gleichzeitig eine Transformation des verhüllten Inneren der Dinge in ihr enthülltes Außen statt. Was wir so aber vorfänden wäre eben nicht das geheimnisvolle Innenleben der Welt, sondern nur ein weiterer Bestandteil ihrer äußeren Verhüllung:
In diesem Sinne entwickelt er [Platon] die Wahrheit als den Gehalt des Schönen. Nicht aber tritt er zutage in der Enthüllung, vielmehr erweist er sich in einem Vorgang, den man gleichnisweise bezeichnen dürfte als das Aufflammen der in den Kreis der Ideen eintretenden Hülle, als eine Verbrennung des Werkes, in welcher seine Form zum Höhepunkt ihrer Leuchtkraft kommt.[12]SG 70.
Für Benjamin erhält so der philosophische Umgang mit Wahrheit eine mystische Färbung. Benjamins Ausführungen zur Aufzehrung des Werkes, also des sichtbaren Schönen, schließen hier an diejenigen zum Denkbruchstück an. Wollten wir die Wahrheit selbst aus derartigen Bruchstücken vollkommen rekonstruieren, würden wir ihr nie ganz auf den Grund gehen. Der Übergang zur Wahrheit kann daher nur in einer Transformation bestehen, die Benjamin hier in das Bild einer energetischen Verwandlung kleidet: In dem Moment, in dem die Wahrheit offenbar wird, verliert das Material, an dem sie sich zeigt, seine Relevanz – ganz so, wie beim Spüren der Flammenwärme das Feuerholz seine Substanz schon lange eingebüßt hat. Durch den Verweis auf Eros erhält diese energetische Metapher eine weitere Sinnkomponente. Sie bedeutet nicht nur eine Verwandlung des intendierten Gegenstandes, sondern auch unserer Einstellung zu ihm. Im Fall der Erkenntnis handelt es sich um einen epistemischen Zustand, den wir zwar auch durch ein Begehren beschreiben können, der sich aber im Moment seiner Erfüllung auflöst. Die Wissbegierde findet eben in der hinreichenden Erklärung einer Sachlage ihre Befriedigung. Anders der Eros. Sein Begehren, das Platon in Bezug auf die Ideenwelt auch als Manie kennzeichnet, findet keine Erfüllung in einem vollständigen Erkennen, sondern ist auf die für dieses Erkennen konstitutive Diskrepanz zwischen innerem Wesen und äußerer Erklärung aus. Benjamin wählt hier, bewusst antiplatonisch, den Begriff der Darstellung, der es ihm erlaubt, den Zustand des Begehrens auch in der Ausdrucksform aufrecht zu erhalten. Ihre Aufgabe ist es, dem Verweisungscharakter des Wahren Rechnung zu tragen, wenn es in der Philosophie ergründet werden soll.
Conclusion
Philosophie nimmt keinen direkten Weg zur Wahrheit. Im Sinne ihrer indirekten Artikulation kann daher kein mustergültiges Rezept für den Einsatz sprachlicher Ausdrucksmittel herangezogen werden. Stattdessen verweist uns Benjamin auf einen strebenden Zustand des Nachdenkens, das sich selbst in seiner Kapazität als Strebendes reflektiert. Die gleichsam theologische Rahmung der Wahrheit hat dabei den Zweck, die Position des Wahren gegenüber dem Denken zu verstehen. Denkender Bezug auf das Wahre ist nicht Erkenntnis; Erkenntnis ist eine Form der sprachlichen Sinnstiftung, mit der wir unsere Umwelt strukturieren. Sie wird von Benjamin daher auch als eine Form des äußerlichen Bezuges auf die Welt verstanden. Äußerlich ist dieser Bezug, weil er sein Objekt nicht in Einheit mit demjenigen Denkvollzug bestimmt, der es erst als so-und-so Bestimmtes hervorgebracht hat. Was ist hingegen Wahrheit? Sie ist zunächst formell bestimmt, als der Sinn des Sinnes. Als das Worum-wegen sinnvollen Hervortretens von einzelnen Erkenntnissen. Sie kann daher auch nicht im System ausgedrückt werden, bestimmt sie sich doch nur zwischen einzelnen Erkenntnissen, eben als ihr geteilter Hintergrund. Benjamin benutzt an anderer Stelle für dieses Verhältnis den Vergleich zwischen Sternbildern und Sternen: „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen.“[13]SG 73. Was ist es, so sollen wir uns fragen, was einen einzelnen Stern als Phänomen am Himmel für uns hervortreten lässt? Es ist nicht die Kenntnis einer abstrakten Gesetzmäßigkeit zur Bewegung der Himmelskörper; es ist auch keine universelle Definition derselben. Ideen sind Zentren unserer Aufmerksamkeit, wie sie sich etwa in Ritualen oder Legenden artikulieren lassen, die den Blick auf Einzelnes fokussieren.
- #13 Index
- Marx und Moderne
- Landschaft konstruieren
- Otto Neurath
- Antisemitismus heute
- Auf der Suche nach einer säkularen Sprache
- "Man is a sum of his misfortunes": narrating tragedy
- Erfahrungen der Moderne in Motiven von Adornos Negativer Dialektik und der Ästhetischen Theorie
- Zum Bewusstsein der Moderne
- Walter Benjamin
- Emmy Noether
- Sigmund Freud
- Roland Barthes' Theorie der Fotografie als ein Stück persönlicher Erinnerung
- Mi querida Humanidad
- Stadt Tee Kuchen
- Diskussionsabend "List. Revolte. Subversion." – Ein Bericht
- Interview zum 97. Kunsthistorischen Studienkongress zu Berlin
- Stadtgeflüster
- Bibliographie